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China / TibetVom Wilden Westen aufs Dach der Welt
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Erste Tuchfühlung mit dem Spitzelstaat
Die Lastwagen stauten sich ziemlich weit, vor der tadschikischen, wie auch der chinesischen Grenzstation. Wie immer konnten wir uns an der stehenden Kolonne vorbeischlängeln und bis zum ersten Kontrollposten auf der chinesischen Seite lief auch alles glatt. Dann wurden wir herangewinkt und unsere Pässe verschwanden in einem Armeegebäude. Wir waren die Einzigen, die warteten, deswegen schauten wir nach geraumer Zeit mal rein, um uns nach dem Stand der Dinge zu erkundigen. Brö entdeckte, dass einer der Soldaten gemütlich jede einzelne Seite unseres Passes fotografierte. „Sie müssten das tun, um die Visa fremder Länder zu studieren“, und „sie machen das mit allen Pässen“ und ähnliche Sprüche brachten dann den guten Brö, der ja bekanntermassen ein gewisses Autoritätsproblem hat, relativ umgehend zur Weissglut. Das kann doch nicht wahr sein! Nach „wir befänden uns auf chinesischem Boden und hier gelten die chinesischen Gesetze und um internationales Recht brauche sich der chinesische Staat nicht zu kümmern“ haute es Brö dann den Nuggi raus. Er konfiszierte kurzerhand die Speicherkarte aus der Kamera des Soldaten. Das war dann allerdings nicht die beste Idee. Ein paar bewaffnete Kollegen schleppten ihn nämlich brüsk in die Baracke, es wurde getobt und geschrien auf beiden Seiten. Jetzt machten die chinesischen Soldaten natürlich auf stur und wollten uns postwendend wieder zurückschicken. Die Situation brauchte nun alles Verhandlungsgeschick von Patrizia und Brö musste seine Kommentare runterschlucken, sonst hätte es geknallt – und zwar nicht von den Chinesen ... Viele Entschuldigungen verstrichen, die Soldaten liessen uns braten und „den Vorgesetzten entscheiden“, wie mit uns verfahren würde. Wir hatten Zeit, den Marionetten beim Tanz zuzusehen. Jedenfalls erinnerte das Stechschritt-Salutieren-rote-grüne-Klappenschwingen der Militärpolizei, die den spärlichen Verkehr auf einem einsamen Gebirgspass – tausende Kilometer vom Volkspalast in Peking entfernt – dirigierten, an ein Puppenspiel. Nach einer Stunde knallten uns die Soldaten die Pässe hin – ohne Einreisestempel. Panik! Wie uns erst jetzt dämmerte, war das hier gar noch nicht die offizielle Grenzstelle, sondern bloss ein unbedeutender Kontrollposten. Das kann ja heiter werden! Ein paar Kilometer weiter lief dann aber alles glatt. Sie wussten wohl bereits, dass zwei Stänker kommen würden, und verhielten sich professionell gleichgültig. Brö hielt schön brav den Mund.
Was wir daraus lernten (und ja eigentlich bereits gewusst hätten): Man lege sich nicht mit den offiziellen Organen Chinas an; man schaue besser mal hinweg über Situationen, die man eh nicht beeinflussen kann; jemanden anzubrüllen (vor allem in Asien) bedeutet Gesichtsverlust und ist äusserst kontraproduktiv.
Wäre ja wirklich zu schade um den ganzen Aufwand gewesen, den uns die Beschaffung des Visums gekostet hatte, wenn uns der Zutritt ins Land des roten Drachens verweigert worden wäre. Nicht weniger als fünf Mal mussten wir bei der chinesischen Botschaft in Teheran antraben und uns den Launen des Konsulats unterwerfen. Will heissen dessen ohnehin schon recht beschränkten Öffnungszeiten (täglich ein paar Stunden, an zwei oder drei Tagen die Woche), die nach Gutdünken gehandhabt wurden, sprich: „Wir haben heut' mal wieder früher Schluss gemacht. Nix für ungut. Tschüss, bis zum nächsten Mal!“. Immerhin hatten wir als Nicht-Iraner gewisse Privilegien, durften oftmals an der Warteschlange vorbei zur sympathischen jungen Englisch sprechenden Iranerin statt zur griesgrämigen unfreundlichen alten schlitzäugigen Schachtel vom Schalter nebenan. Wenn wir Glück hatten. Die Papiere waren in Ordnung: eine schön farbig gestempelte Flugreservation mit Rückflugticket und eine unverfängliche Reiseroute entlang den touristischen Hotspots. Nach einer letzten Gewissensprüfung von Aug zu Aug beim Herrn Konsul persönlich und ein wenig Flunkern unsererseits (lobe das grossartige Land des Roten Riesen in allerhöchsten Tönen und vermeide unter allen Umständen Worte wie „Tibet“, „Fahrrad“, „Xinjiang“, auch wenn du genau deshalb nach China willst, denn das gibt sofort die Rote Karte) wurden wir für tauglich erklärt und erhielten tatsächlich das gewünschte Dreimonatsvisum. Was jetzt nach nicht viel klingt, aber dort, wo andere Reisende überhaupt kein oder bloss ein Zweiwochenvisum kriegten, einer kleinen Sensation gleichkommt!
Wie waren drin, im Reich der Mitte, und jetzt aber Friede Freude Eierkuchen, denn schliesslich war Brös Geburtstag. Und den musten wir nun weder im Niemandsland, noch in Tadschikistan, noch hinter Gittern feiern. Nach einer genussvollen Fahrt durch die weiter werdenden Täler, durch die aride Landschaft am Fusse des Irkestam Passes fanden wir am frühen Abend ein lauschiges Plätzchen am Fluss. Wir errichteten das Camp, und während die Sonne über den hohen Gipfeln unterging und sich hinter uns der Himmel zusammenzog und sich die ersten Blitze entluden, zauberte Patrizia den geschmuggelten Wodka aus der Tasche. Apéro. Bald duftete es herrlich nach Spaghetti, ebenfalls Branntweinmässig aufgepeppt. Die Kerzen steckten in Snickers-Riegeln – wie könnte es anders sein ...
Während der folgenden Tage änderte sich bezüglich der umwerfenden Landschaft und der herzlichen Bewohner nicht viel gegenüber Zentralasien. Die KP hat zwar eine schöne Strasse hingebaut, ein paar Militärkasernen hochgezogen. Chinesische Schriftzeichen zierten die Richtungstafeln, aber daneben auch arabische. Was nun natürlich für uns beides äusserst hilfreich war. Aber es zeigt eines, nämlich dass der chinesische Staat nicht per se alles Nicht-Han-Chinesische unterdrückt, wie uns das die westliche Propaganda glauben machen will.
Kashgar
Wir sausten auf Kashgar zu, der Wegscheide Zentralasien – Pakistan – China – Tibet. Der Wind half uns ein wenig dabei, sowie die Tatsache, dass es noch immer bergab ging. Deswegen fragten wir uns auch nicht, wieso die Motorräder hier so leise dahinglitten. Erst in der Stadt angekommen merkten wir, dass die Roller ebenso geräusch- und abgaslos vorwärtskamen, als es flach wurde. Elektrotöffs beherrschten das Strassenbild und wir staunten schon ein wenig, dies gerade hier in China zu sehen. „Go green!“ nicht erst seit gestern, denn man traf auch sehr betagte Elektro-Fahrzeuge der ersten Generation an. Lässt man ausser Acht, dass der Strom für die Batterien vermutlich aus stinkenden Kohlekraftwerken irgendwo draussen in der Pampa kommt, ziemlich fortschrittlich. Ein weiteres Vorurteil gegenüber dem Roten Riesen widerlegt. Und noch einige sollten folgen.
In so vielem waren wir positiv überrascht von China, dem bevölkerungsreichsten Land der Erde, das in riesigen Schritten vom maoistischen Arbeiter- und Bauernstaat Richtung Marktwirtschaft – und Weltmacht schreitet. Infrastrukturprojekte werden hier fristgerecht zu ende gebaut, öffentliche Dienste wie Post, Telefon, Bus und Bahn funktionieren. Die Städte sind erstaunlich sauber, die hygienischsten Märkte ganz Asiens fanden wir in China. Nicht alles blitzte und blankte hier, aber deutlich mehr, als rundherum. Es wurde nicht mehr gespuckt, gegrunzt, gerülpst, gefurzt als anderswo auch. Bei den öffentlichen Toiletten allerdings orteten wir hie und da noch etwas Potenzial, den Gemeinschafts-Plumpsklos Zentralasiens standen sie punkto Sauberkeit und Privatsphäre in nichts nach ... Nun fragt sich natürlich auch, wenn man so den Vergleich zu westlichen Standards zieht, was ekliger ist – gebrauchte Kondome und Spritzen oder ab zu mal ein Häufchen, das danebenging und ein Zigarettenstummel – und wo das Infektionsrisiko grösser ist.
Erstklassige Strassen und Bahnlinien werden in die entlegensten Winkel des Grossreiches gebaut – was bei uns als „Unterstützung der Randregionen“ gepriesen würde, hierzulande aber von westlicher Presse als imperialistischer Akt dämonisiert wird. Vielleicht sehen das die Bewohner besagter Landstriche ja ein bisschen anders, wenn sie statt innert drei Tagen zu Fuss oder auf dem Kamelrücken über Stock und Stein innerhalb von bloss drei Stunden per Bus in einem funktionierenden Spital sind. Aber eben, der Verainatunnel dient ja auch bloss den neureichen Yuppies von der Zürcher Goldküste, um mit ihren SUVs schneller zu ihren von den Eingeborenen Engadinern abgeluchsten umgebauten Ferienhäusern gelangen – und nicht umgekehrt. Oder? … Wie immer, das meiste, Gutes, wie Schlechtes hat zwei Seiten – je nachdem, von wo aus man blicht, und vor allem, was man darin sehen WILL.
Karakorum Highway
Wir wussten, dass wir nicht über Pakistan weiterreisen würden. Und doch reizte es uns, zumindest den chinesischen Teil der Traumstrecke über den Karakorum zu beradeln. Leider eine Sackgasse aber clever, wie wir sind, nahmen wir einen Pick-up bis hinauf zur allerletzten Ortschaft vor dem Pass. Obwohl diese noch etwa hundert Kilometer von der Grenze entfernt war, war hier bereis Schluss mit Individualverkehr. Die Volksbefreiungsarmee will nicht, dass man sich zu nah an die Demarkationslinie schleicht.
Bereits nach ein paar Metern auf dieser genialen Hochgebirgsstrecke mussten wir voller Wehmut daran denken, was wir verpassten, weil uns die chinesische Zentralführung verboten hatte, durch Tibet zu radeln. Ganz so richtig erlaubt war es ja nie, aber bis vor den Olympischen Spielen Zweitausendacht war es immerhin möglich, sich an den Kontrollposten vorbeizuschleichen und man liess die Tourenradler gewähren. Dies hat sich aber seither leider geändert und an den Militärkontrollen gab es jetzt scheinbar kein Vorbeikommen mehr. Ausser mit kugelsicherer Weste vielleicht. Unsere war aus Fleece.
Noch als wir in Arabien losfuhren, dachten wir, durch Westtibet nach Lhasa zu reisen. Fast dreitausend Kilometer hoch über den Wolken auf diesem endlosen Plateau zu radeln. Ein Traum, den wir schon ewig hegten. Wie enttäuscht waren wir, als wir nach und nach erfuhren, dass es unmöglich geworden warn, ihn zu verwirklichen. Bis zuletzt waren wir uns nicht sicher, ob wir stattdessen über Pakistan und Indien nach Nepal gelangen sollten. Die Alternative über den Kaschmir war natürlich auch nicht möglich da es Indien und Pakistan noch immer nicht auf die Reihe kriegen da oben in den Bergen. Also hätten wir in einem grossen Bogen ganz runter und dann mitten durch den Subkontinent fahren müssen. Darauf hatten wir nun aber auch keine grosse Lust. Da war China noch das kleinere Übel. Echt, einerseits dachten wir, dass uns die Chinesen doch den Buckel runter rutschen können mit ihren ganzen Verboten und ihrer mehr als fragwürdigen Tibetpolitik und andererseits wollten wir einfach dahin. Eine andere Alternative wäre gewesen, das Dreimonats-Chinavisum voll auszuschöpfen, das Land von West nach Ost zu durchqueren und dann nach Südostasien reinzukurven. Aber dann hätten wir Nepal überspringen müssen. Kopfzerbrechen. Unser endgültige Plan stand erst zwei Tage vor Überschreiten der Grenze fest.
Und der beinhaltete eben einen kurzen Abstecher hinauf in die imposante Gegend des Karakorum. Stufenweise ging es nun hinunter und mit jeder Biegung des langen Tales änderte sich die Landschaft. Die Fahrt durch das hauptsächlich von Tadschiken und Kirgisen bewohnte Gebiet dauerte leider nur ein paar wenige Tage. Kurz, intensiv, fantastisch! Einen zusätzlichen Tag verbrachten wir auf Pferderücken. Mit einem jungen Führer ritten wir hinauf zum Muztagata-Gletscher, welcher von dem mächtigen Siebentausender fliesst, der das nördliche Ende des tibetanischen Plateaus markiert. Wir mussten unsere Wallache ganz schön antreiben, denn immer steiler wurde der Pfad, bis wir auf über viertausendsechshundert Meter die Gletscherzunge erreichten. Wir trotteten vorbei an Yaks und Kamelen, über zugefrorene Bäche, bis auch noch die letzten Grasbüschel verschwanden und die Moränenwälle steil vor uns aufragten. Eigentlich hätten wir da ohne Permit gar nicht hoch dürfen, aber der Bruder unseres Führers lenkte zur vereinbarten Zeit die Soldaten, die das Gebiet mit Feldstecher und Argusaugen beobachten, erfolgreich ab, indem er sie in eine Partie Pool und eine Flasche Bier verwickelte. So läuft das.
Die Nacht verbrachten wir in einem kleinen Weiler im Lehmhaus des Soldatenablenkers. Im Kreise der Familie gab es Milchtee und frisches Brot – wie wir das lieben! Während sich die Sippe für die Nacht den einen Raum teilte, den mit dem Ofen, überliess man uns und dem Tandem den anderen. War aber trotzdem ein Luxus, denn sonst schliefen wir ja in der freien Natur, kuschelten uns in unsere Daunenschlafsäcke und genossen die kühlen aber herrlich klaren Nächte. Es gibt eben doch nichts Schöneres, als abends vor dem Zelt zu kochen, vom eisigen Abendwind früh zum Zubettgehen „gezwungen“ zu werden und am nächsten Morgen unter den ersten wärmenden Sonnenstrahlen des Tages auf einem bequemen Stein zu frühstücken.
Mao, Fettschwanzschafe, Soldaten, Nudeln und Uiguren
Wieder zurück in Kashgar quartierten wir uns erneut in der gemütlichen Jugendherberge mitten in der Altstadt ein. Jenem Teil der Stadt, den die örtliche KP (Kommunistische Partei) eigentlich bulldozen möchte, andererseits aber für den Eintritt sogar Geld verlangt. In China scheint kulturelle Vielfalt ins Museum zu gehören. Denn am liebsten Han-chinesischer Einheitsbrei, was Städteplanung betrifft. Breite Strassen, grosszügige Plätze, mächtige Mao-Statuen. Daneben existiert aber (zurzeit) doch immerhin noch der hauptsächlich von Uiguren bewohnte Teil mit engen Gassen, traditionellen Häusern. Mit einem fantastischen Nacht-Markt, wo man sich abends den Bauch vollschlagen konnte mit Delikatessen jeder Couleur. Gebackene oder gedämpfte Teigtaschen (vorwiegend mit Schafsfett gefüllt), Spiesschen (vorwiegend aus Fettstücken bestehend), Schafskopfsuppe, frischem Fisch (woher der auch immer stammen mochte, hier am Rand der Wüste), Wassermelonen und gezuckerten Frühlingsrollen. Zum Dessert gab es Eis in den Variationen „Käse“, „Erbsen“ oder „Mais“. Das muss man den Chinesen lassen, sie sind experimentell, erfinderisch und unkonventionell, was das Essen betrifft.
Die Amerikaner tun ja so, als hätten sie die Pizza erfunden. Was ganz einfach nicht stimmen kann! Aber wer einmal in China war, der wird schnell feststellen, dass die Spaghetti ihren Ursprung ganz bestimmt nicht im Stiefel Europas haben. Die Besten Nudeln gibt es nämlich hier. Und zudem macht man hier nicht so ein Drama darum, wenn die Pasta mal frisch- und hausgemacht ist. Das ist nämlich die Regel. Ein Eldorado für Teigwarensüchtige. Nudeln werden hier wie Wolle gesponnen, lang gezogen und auf den perfekten Biss geschlagen und geklopft. Dann kurz durchs Wasser gezogen und voilà, buon appetito!
Das Highlight von Kashgar ist der Sonntagsmarkt. Der Viehmarkt, um genau zu sein. Eintauchen in eine andere Welt. Die Welt der Hirten und Bauern, die sich hier sonntags treffen, um ihre Tiere zu handeln. In langen Reihen stehen die berühmten Fettschwanzschafe, dicht an dicht zusammengebunden und strecken den Interessenten ihre frisch gestutzten Hintern entgegen. Man will schliesslich wissen, was man für den teuren Yuan bekommt und das wertvollste an einem Fettschwanzschaf, das könnt ihr euch ja denken. Fetter Schwanz. Neben den wollenen Viechern wurden natürlich auch ganz profane Kühe, Pferde, Esel und Ziegen gehandelt. Und Yaks und Kamele. Und natürlich alles, was man für die Tierhaltung braucht. Stricke, Riemen, Hufeisen, Zaumzeug und frisch geschliffene Scheren für die kecke Frisur am Hintern.
Die Soldaten fuhren in Lastwagenkolonnen durch die Strassen und präsentierten ernste Bubigesichter und knallrote Spruchbänder mit revolutionären Slogans (nehmen wir jedenfalls an, lesen können wir's ja nicht). Von den Unruhen, die in der Provinzhauptstadt Ürümqi herrschten, konnte man hier nicht viel spüren. Ausser der erhöhten Militärpräsenz (obwohl wir ja eigentlich gar nicht wissen, ob sie erhöht war) und den Kontrollen auf allen Einfallstrassen. Dort wurde jede Person, die unterwegs war, kontrolliert und per Identifikationskarte im Computer erfasst, damit Väterchen Staat zu jedem Zeitpunkt wusste, wo sich seine Schäfchen befinden. Subversive Elemente vermutlich gleich abgezügelt. Unserer leicht staatskritischen Einstellung zum Trotz konnten aber auch wir überall passieren und somit waren wir nicht eingeschränkt in unserem Bewegungsradius. Ausser bei der allgemeinen Ausgangssperre die perfiderweise zu Eid ul Fitr, dem Ende des Ramadans und dem wichtigsten Fest der Muslime verhängt wurde. Religion und Kultur gut und recht, aber bitte nach unseren Regeln!
Was für uns persönlich dann eher etwas mühsam war, war die totale Kommunikationssperre gegen Aussen. Man konnte zwar in andere Provinzen telefonieren, aber internationale Telefonate und Internet funktionierten in der Xinjiang-Provinz nicht. Und zwar während Monaten. So lange waren wir zwar nicht hier, aber wir mussten unsere Lhasa-Kathmandu-Velotour organisieren und der Veranstalter sass in Nepals Hauptstadt. Nun waren wir also auf jemanden angewiesen, der in einer anderen Provinz wohnte und als Schaltstelle fungierte. Per Telefon gaben wir unsere Anfragen durch, die Ruby, eine gute Seele deren Telefonnummer wir zufällig auf einem alten Email fanden, als wir Erkundigungen über Tibet einholten, eintippte und nach Kathmandu sendete. Ein paar Tage später riefen wir wieder an und sie las uns die Antwort vor und so funktionierte das Spiel ein paar Mal hin- und her, bis alles organisiert war und wir unsere vom Tourismusministerium abgesegnete All-Inclusive-Velotour gebucht hatten.
China in zehn Tagen
Dadurch waren wir jetzt plötzlich ein bisschen in Eile. Denn uns bleiben etwa noch zehn Tage, bis wir in Lhasa eintreffen sollten. Was gut fünftausend Kilometer entfernt lag! Mit dem Velo wäre das wohl ein bisschen eng geworden ... Also sendeten wir dieses per Railway Express Service voraus und reisten mit Ultraleicht-Gepäck weiter. Wir machten derweil einen Schleife um die Taklamakan-Wüste mit Zwischenstopps in ein paar Ortschaften, damit wir wenigstens noch ein bisschen was vom Land sahen. Die Strecken dazwischen überbrückten wir mit Nachtzügen und -Bussen. Und das war eigentlich recht komfortabel und wie alles in China, sehr gut organisiert. Die Schlafbusse waren nämlich mit einfachen Pritschen ausgestattet und man konnte gemütlich liegen und sich je nach Strecke mehr oder weniger sanft hin- und her in den Schlaf wiegen lassen.
Auch die Hotels, in denen wir abstiegen, widerspiegelten chinesischen Pragmatismus: Nicht unbedingt mit sehr viel Liebe fürs Detail eingerichtet, dafür praktisch und meistens auch sauber. Sogar frische Bettwäsche gab es hier (meistens)! Ein Luxus, den wir in den vergangenen Monate fast gar nie antrafen. In jedem Zimmer fand sich neben dem unbrauchbaren Fernseher (Kanal China Eins bis China Fünfzig) ein sehr brauchbarer Wasserkocher. Drei-in-Einem-Kaffee und Ovomaltine-Beutel hatten wir immer mit und auch Instant-Nudelsuppen für den plötzlichen Hunger. Weil, die Distanzen in China sind ja so gross, dass man schon einen Jet-Lag kriegt, wenn man innerhalb einer Provinz umherzieht und somit der Biorhythmus ein wenig durcheinander kommt.
Die Sehenswürdigkeiten Westchinas stossen nicht nur bei Ausländern auf Interesse, von denen hatte es nämlich nicht sehr viele, sondern vor allem bei einheimischen Touristen. Und da Chinesen zu Hordentieren erzogen werden, läuft das auch beim Sightseen ziemlich strukturiert ab, um dem Ansturm Herr zu werden. Wie immer, alles bestens organisiert. Das aber hatte seinen Preis, respektive Eintrittspreis. Exorbitante Summen musste man teilweise hinblättern, um sich durch die historischen Stätten schleusen zu lassen. Und zwar nicht nur wir Ausländer, sondern auch die Einheimischen, was doch eher unüblich ist in dieser Ecke der Welt.
Was wir uns unter gar keinen Umständen entgehen lassen wollten, war der Besuch der Grossen Mauer. Dieser riesige Wall fasziniert einem ja bereits als Kind und einmal auf dem längsten Bauwerk der Erde zu sein, überbietet selbst das Gefühl, auf dem Eiffelturm zu stehen oder unter den reproduzierten Bildern der Kapellbrücke zu wandeln. Allerdings nichts im Vergleich zu den Pyramiden Ägyptens natürlich, weil die Ausmasse des Bollwerks kann man nur erahnen und nicht wirklich sehen. Man müsste schon ziemliche Sperberaugen haben (und einen etwas aufgemotzten Eiffelturm dazu), um das Ausmass der achttausendachthundertzweiundfünfzig Kilometer langen Mauer zu sehen. Im Vergleich: Der Mt. Everest ist achttausendachthundertachtundvierzig METER hoch, also gerade mal einen Tausendstel!
Das zeigt und gleich drei Sachen: a) Die Chinesen lieben die Zahl Acht, b) China ist ein Land der grossen Dimensionen und c) die Chinesen waren schon immer recht protektiv. Haben ihre Grenzen für alle gut ersichtlich markiert und beschützt. Dass dies funktioniert ist eindeutig, dass es nicht ganz immer ohne innen- und aussenpolitische Auseinandersetzungen geht, liegt auf der Hand. Ob es sinnvoll ist, ein solch riesiges Staatsgebilde, welches extrem unterschiedliche Kulturen und Ethnien zu vereinen versucht, zu errichten und zu erhalten ist natürlich eine Frage, die schwer zu beantworten ist.
Aber sind die ehemaligen Sowjetrepubliken wirklich besser dran, nachdem sie unabhängig wurden? Und haben es die Minderheiten dort nun wirklich besser, als vorher? Es scheint ja wirklich ein Fluch mit diesen „Minderheiten“. Man kann ein Staat teilen so viel man will, jemanden findet man immer, den man unterdrücken und auf den man einprügeln kann. Ist halt einfach so, dass es uns erst gut geht, wenn es uns ein bisschen besser geht, als den „Anderen“. Und unsere Sicht der Dinge immer ein bisschen richtiger ist, als die der „Anderen“. Und dass der Stärkere gewinnt, das hat ja nicht der Homo sapiens erfunden. Aber zumindest hätte er die Möglichkeit, dank seinem evolutionsbedingt unglaublich mächtigen Gehirn, ein bisschen darüber nachzudenken.
Xining – Lhasa
Nach den üblichen Gepäck-Kontrollen mit Nagelfeilen-Konfiszierung et ceterea, traten wir auf die Plattform und standen vor dem Zug, der uns nach Lhasa bringen sollte. Eine moderne Komposition und ein Flaggschiff des chinesischen Eisenbahn. Zusammen mit vier Einheimischen teilten wir uns das „Hard-Sleeper“-Abteil. Welches so hart gar nicht war. Eine frisch bezogene Koje mit fein duftenden Laken. Für die nächsten zwanzig Stunden war dies unser Zuhause. Es war alles sauber, freundlich eingerichtet und höchst modern. Aus den Lausprechern tönte dezente chinesische Musik und jeder richtete sich für die kommende Nacht ein. In den Thermoskannen stand heisses Wasser bereit, sodass sich jeder die obligate Nudelsuppe selbst kochen konnte. Der Zug setzte sich sanft in Bewegung und am Fenster im Gang stiessen wir mit einem Glas Rotwein auf dieses Unterfangen an, während sich langsam die Nacht über das Land senkte.
Am nächsten Morgen hatten wir längst Golmud, das südliche Tor nach Tibet, passiert und waren bereits am Rande des Hochplateaus. Das Wetter war herrlich und je weiter sich der Zug nach oben schlängelte desto klarer wurde die Sicht, desto intensiver die Farben. Über den sinkenden Sauerstoffanteil der Atemluft brauchte man sich keine Gedanken zu machen, denn jedes Bett war für den Notfall mit einem individuellen Oxygenanschluss ausgestattet. Die höchste Eisenbahnstrecke der Welt (fast tausend Schienen-Kilometer liegen über viertausend Meter über Meeresspiegel) führt über den fünftausendundzweiundsiebzig Meter hohen Tanggula-Pass, der zu dieser Jahreszeit bereits mit einer Schneeschicht bepudert war. Über fünfhundert Kilometer der Strecke verlaufen auf Permafrost-Boden, was den Ingenieuren einiges an Einfallsreichtum abverlangte. So werden Teile des Schienenbetts sogar passiv mit Wärmetauschern gekühlt, damit die Geleise im Sommer nicht im Schlamm versinken. Der Zug überquert sechshundertfünfundsiebzig Brücken (insgesamt hundertsechzig Kilometer!), was unsere gute alte Berninabahn jetzt langsam wirklich etwas alt aussehen lässt. Oder?
Lhasa
Lhasa, Hauptstadt Tibets, Zentrum des tibetanischen Buddhismus, diese Stadt, in welche wir eigentlich kaputt und verschwitzt nach einer gut zweimonatigen und dreitausend Kilometer langen staubigen Fahrrad-Tour eintreffen wollten, dort hinein fuhren wir nun mit unserem Führer im Taxi. Ausgeschlafen und gut genährt. Leider kann man Tibet als Nicht-Chinese bloss im Rahmen einer organisierten Tour besuchen. Und das gilt für die gesamte autonome Region. In Lhasa darf man sich aber, Gott sei Dank, frei bewegen.
Und das machten wir noch am selben Abend. Denn wir hatten bloss zwei Tage Zeit in, bevor die Tour losging. Eigentlich hätten wir ja schon eine Weile eher hier sein wollen, aber die chinesische Zentralregierung beschloss kurzerhand ein paar Tage vor Torschluss, Tibet für Touristen dichtzumachen während der Sechzigjahre-Feierlichkeiten der Volksrepublik. Die können das. Und die machen das auch. Genauso, wie sie entscheiden, welche Klöster noch in Betrieb sind und wie sie betrieben werden, welcher regierungstreue Lama wo sitzt, wie viel Religion und tibetanische Kultur im Reich der Mitte gerade noch geduldet wird.
Wer das Zepter hier in der Hand hält, wird einem am ehesten bewusst, wenn man vor dem Potala Palast steht. Auf dem neu angelegten grossen Platz nach chinesischem Muster, komplett mit Betonskulptur, Springbrunnen, Ehrengarde und grossen Lautsprecherboxen mit Lasershow – damit man nie vergisst, wer hier das Sagen hat. Der mächtige rot-weisse Palast, jahrhundertelang Residenz des Dalai Lama, ist zwar noch immer ein imposantes Bauwerk, aber leider zu einer leeren Hülle verkommen, nicht nur aller heiligen Schriften, historischen Dokumenten und der meisten Kunstgegenstände, sondern auch jeglicher buddhistischen Spiritualität beraubt. Touristenfreundlich auf Museum getrimmt, von Han-Chinesen verwaltet. Buddhismus als Show für einheimische und ausländische Touristen, die sich hier mit eigenen Augen überzeugen sollen, dass China sein kulturelles Erbe bewahrt.
Die Kulturrevolution, heute von der KP immerhin als „schwerer Fehler des Genossen Mao Zedong“ klassiert, grassiert aber dennoch schleichend vor sich hin. Nicht mehr mit der öffentlichen Zerstörung von Kulturgut (und Andersdenkenden), aber mit der konstanten Unterdrückung von Gedankengut und der Beschränkung religiöser Tätigkeiten. Nicht unbedingt mehr Kommunismus also oberste Maxime, dafür sozialistischer Kapitalismus marke Han-China. Aber wenn wir ehrlich sind, ist das nicht viel anders als bei uns zu Hause. Nur, dass der westliche kommerz-atheistische vermeintlich-individualistische Einheitsbrei selbst gewählt ist. Macht es auch nicht weniger schlimm. Und kommt schlussendlich auf dasselbe raus.
Ist natürlich aber immer schön, mit dem Finger auf jemanden zu zeigen. Und da China natürlich immer Sündenbock. Da läuft ja immer was schief. Und die westliche Propagandamaschine ist keinen Deut besser, als die aus Beijing, einfach umgekehrte Vorzeichen. Am meisten fürchten wir ja sowieso die wirtschaftliche Konkurrenz, die vom Osten droht. Und da wollen wir doch gar nicht hören, dass dieses Land, mit allen Makeln einer Einparteienregierung, einer Quasi-Militärjunta, im Grunde genommen so gut funktioniert. Dass die Infrastruktur besser ist als in manch einem EU-Land und dass selbst die Korruptions-, Kriminalitäts-, Kindersterblichkeits- und wie all die üblen Raten auch immer heissen, die definieren, wie gut doch ein Land ist, auch nicht höher sind. Für jedes schlechte Beispiel, das man in China findet, gibt es bestimmt mindestens ein genau so schlechtes Pendant in Europa. Und man darf nicht vergessen, dass China noch immer offiziell zu den Schwellenländern gezählt wird, also theoretisch noch ein wenig Goodwill verdient hätte. Und, was das politische System betrifft, ist zu bezweifeln, dass eine direkte Demokratie à la Suisse in einem Land mit fast einskommavier Milliarden Einwohnern (was bescheidene hundertfünfundsiebzig mal mehr sind als in der Schweiz, auf einer zweihundertzweiunddreissig mal grösseren Fläche) funktionieren könnte. China hätte wohl heute noch keine Autobahnen, Kraftwerke und Fabriken. Aber vielleicht wäre das ja ganz genehm ...
So jetzt genug davon. Nicht, dass man uns vorwerfen kann, wir seien verkappte Kommunisten. Und nicht, dass der Schweizer Staatsschutz am Schluss noch unsere Pässe einzieht, wenn wir eines Tages wieder vor der Tür stehen. Es reicht ja schon, dass wir in unseren Berichten Schlüsselworte wie „Iran“, „Al Kaida“ et cetera verwenden ...
Eines aber möchten wir noch anfügen: Es hat uns selbst erschreckt, welche vorgefertigte Meinung wir von China (und, nebenbei, einigen anderen Ländern, die wir bereist haben) hatten. Und wie weit diese teilweise von der Realität entfernt war. Trotz gut informierter „freier“ Presse. Trotz Schweizer Bildungswesen. Und trotz unserer, in unseren Augen, „offenen Weltsicht“, trotz unserem Interesse an Fremdem. Zugegeben, wir sind nicht gerade die grössten History-Buffs und absolut keine News-Junkies. Aber wenn, das Wenige was man weiss schon verkehrt ist, dann wissen wir auch nicht mehr weiter ... Das Einzige, was man dann noch tun kann, ist, was man hört, liest und sieht mit einer gesunden Portion Skepsis (oder gar nicht) abzuspeichern. Und nicht jedem Politiker, Journalisten, Kolumnisten, Lehrer, Pfarrer, Freund oder Kollegen einfach nach dem Maul zu reden.
So, genug geschwafelt, jetzt müssen wir einen Gang nach oben schalten, denn unsere Tibet-Tour hat begonnen. Nach einigen Nachforschungen tauchte nämlich zum Glück auch noch der wichtigste Protagonist auf: unser Tandem. Wir dachten schon, unsere Bagage, die wir im fünftausend Kilometer entfernten Kashgar aufgegeben hatten, sei in der Inneren Mongolei oder sonst wo gelandet. Aber alles noch da, alles noch heil und im Nu startklar gemacht.
Wir lernten unsere beiden Führer kennen und unsere Reisegespanen. Ein Paar aus Deutschland und eines aus Frankreich. Somit waren wir mal wieder verdammt, uns auf Englisch zu unterhalten. Tashi, der vorgeschriebene tibetanische Reiseführer sprach zwar auch eine Art Englisch, aber so kompliziert und bruchstückhaft, dass wir mehr wegdrifteten, als nicht, wenn er mal wieder was erklärte. Dabei wäre es wirklich interessant gewesen. Nicht nur das, was er über die Klöster zu erzählen wusste, sondern auch über das Leben als Tibeter in China. Denn als ehemaliger Exil-Tibeter, der zehn Jahre in Indien lebte, durfte er zwar wieder zurückkommen in seine Heimat, aber hat jetzt keine Chance mehr, China oder Tibet in absehbarer Zukunft zu verlassen. Nicht mal, um seine Frau und seine Kinder zu besuchen, die in Australien leben. Es sei denn, er möchte seinem Geburtsort und seiner Familie ganz den Rücken kehren.
In den folgenden zwei Tagen beschnupperten wir uns ein wenig und schauten uns gemeinsam die Tempel und Klöster an, welche man nicht individuell besuchen durfte. Daneben blieb aber zum Glück noch Zeit, um sich alleine ein wenig in der Stadt umzusehen. Die Altstadt, war noch mehrheitlich so, wie wir uns Lhasa vorgestellt hatten. Gebetsflaggen flatterten auf den Dächern an langen Stangen im Wind. Massen von Gläubigen strömten zum Jokhang-Tempel und umrundeten ihn in einem grossen Bogen um die Altstadt dreimal. Es war ein konstanter Strom aus Pilgern, die ihre Gebetstrommeln schwangen und solchen, die die ganze Strecke in Körperlängen abmassen. Ein tausendfaches Sich-auf-den-Boden-werfen. Es war ein Fest für alle Sinne. Farbig, chaotisch. Die Menschen brachten alle Gerüche ihrer Heimat und ihres langen Weges mit. Yak(fett), Rauch, Sonne, Schweiss. Entschlossene, ernste Gesichter. Pilgern ist wichtig fürs erfolgreiche Reinkarnieren. Man will ja nicht als Kaninchen wiedergeboren werden.
Die Volksbefreiungsarmee war präsent aber nie und nimmer in dem Ausmass, wie wir uns das vorgestellt hätten. Vereinzelt standen an strategischen Punkten bewaffnete Soldaten und beobachteten mit gleichgültigen Gesichtern die Szenerie. Man kann sich aber denken, dass bei den geringsten Anzeichen eines Aufruhrs vielleicht nicht gleich Panzer, aber olivgrüne Lastwagen daherrattern würden. Überhaupt fragten wir uns im Verlauf der folgenden Tour, ob es nicht vielleicht doch möglich gewesen wäre, mit dem Rad durch den Westen Tibets zu radeln. Denn die wenigen Kontrollposten, die wir passieren mussten, wären eventuell schon irgendwie ohne Papiere zu umgehen gewesen. Aber andererseits sind dreitausend Kilometer schon eine lange Strecke und wir wollten unser Glück nicht herausfordern. Und schon gar nicht das chinesische Militär.
Friendship Highway
Wir starteten unsere Tour vor dem Potola Palast, folgten unserm Führer Nummer zwei, dem fürs Velofahren, hinaus aus der Stadt, liessen Lhasa hinter uns. Es war, wie eine Sonntagnachmittagstour, denn unser Anhänger und unser Gepäck reiste gemütlich auf dem Eskort-Lastwagen. Wir brauchten lediglich etwas Wasser mitzutragen, was Warmes zum Anziehen und etwas Flickzeug. Nicht mal für den Lunch mussten wir besorgt sein, denn nach etwa drei Stunden zügigen Radelns durch eine weite Ebene bogen wir ab und uns erwartete der Rest der Crew. Und ein gedeckter Tisch! Während der sechzehn Tage, die der Trip dauerte, schaffte es die Küchenmannschaft immer, uns eine warme Mahlzeit zum Mittagessen zuzubereiten, egal wo. Und nicht zu knapp! Kalorienmässig waren wir bestens versorgt.
Der Rest der ersten Etappe führte uns zum Fuss des ersten Passes. Und dort, erneutes Staunen, standen unsere Zelte bereits. Jedes Paar hatte sein eigenes Schlafzelt. Daneben gab es ein Küchenzelt, ein Esszelt, komplett mit Tischen und Stühlen, ein Latrinenzelt und, jetzt wird's kitschig, ein Duschzelt! Ohne Witz. Die Helfer kochten sogar warmes Wasser, damit wir uns waschen konnten. Wir waren also bestens versorgt und es war so was von anders, wie wenn wir alleine unterwegs sind. Diesen Luxus möchten wir bestimmt nicht für immer, aber für einmal genossen wir es, uns verwöhnen zu lassen.
Der nächste Morgen startete mit einer Tausend-Höhenmeter-Kletterpartie und wir konnten uns zum ersten Pass gratulieren: Kambala, viertausendachthundert Meter über Meeresspiegel. Die Aussicht genial und bereits konnte man die ersten Gipfel des Himalaja erahnen. Im Schuss ging es hinunter zum Yamdruk-See und unsere Augen waren geblendet vom tiefen Blau-Grün des Beckens. Die Farben auf diese Höhe sind unbeschreiblich intensiv.
Zwei Tage später überfuhren wir unseren ersten Fünftausender Pass. Die Täler um Shigatse waren verhältnismässig dicht besiedelt. Die Strasse war in perfektem Zustand, es war flach und wir flogen nur so dahin. Ein ganz neues Fahrgefühl, so ganz ohne Ballast. In den grossen Ortschaften schliefen wir in Hotels. Richtig edle Häuser mit grossen Empfangssälen, Stuck-Decken und Wandgemälden. Etablissements, die wir uns sonst natürlich nie geleistet hätten. Aber hier war ja alles inklusive.
Danach fing das Tibet an, welches wir uns vorgestellt hatten. Einsame Hochebenen, nur Himmel, Eis und Fels. Es war atemberaubend! Wir überfuhren den höchsten Pass dieser Strecke: Lakpa, fünftausendzweihundertsechzig Meter über Meeresspiegel. Wir erhaschten den ersten Blick auf den Everest. Am Folgetag bogen wir vom Highway ab und auf Schotter ging es Richtung Basislager. Die über vierzig Haarnadelkurven des Pang Passes belohnten uns mit der einmaligen Aussicht auf nicht weniger als fünf Achttausender. Makalu, Shishapangma, Cho Oyu, Lotse und Everest hoben sich von anderen, nicht minder imposanten und unwesentlich weniger hohen Gipflen des Massivs ab. In Rongbuk, unweit des Mt. Everest Basislagers, schlugen wir neben einem Kloster für zwei Nächte unser Camp auf. Die untergehende Sonne liess die Ostflanke des höchsten Berges der Welt glühend rot leuchten. Wir liessen das Essen stehen und mit staunenden Gesichtern verfolgten wir das Schauspiel. Das ist der Vorteil der Rad- gegenüber den meisten Jeeptouren: Man übernachtet hier oben, auf fünftausend Metern, am Fusse des Chomolungma, wie der Mount Everest auf tibetisch heisst und kann sich stundenlang sattsehen am Gebirgspanorama.
Der zweite Teil der Strecke bis nach Nepal war noch imposanter als der erste. Und noch intensiver. Die Temperauren waren teilweise kaum zum auszuhalten (und es war erst mitte Oktober!) und wir mussten wirklich all unsere Kleider anziehen, die wir mithatten: drei Paar Handschuhe, vier Paar Hosen und Patrizia trug unglaubliche acht Schichten am Oberkörper. Nur so war der beissende, eiskalte Wind auszuhalten. Wir erwischten nun immer häufiger Gegenwind, in welchem man sogar bergab pedalen musste. Die Nächte in totaler Abgeschiedenheit waren sagenhaft. Man hoffte zwar immer, dass man sich das Pinkeln bis zum Morgengrauen verkneifen konnte, aber wenn es dann doch nicht mehr anders ging, man sich nur noch wälzte und von tropfenden Wasserhähnen, verlockenden Toiletten und rauschenden Wasserfällen träumte, und man sich endlich überwunden hatte, sich aus dem Daunenschlafsack zu schälen und das Zelt zu verlassen, wurde man mit einem atemberaubenden Sternenfirmament belohnt. Die dünne klare Luft gab einem einen Hubble-mässigen Blick in den unendlichen Weltraum frei. Morgens wurde man mit einem heissen Tee, ans Bett serviert, sanft geweckt. Musste bloss seinen Schlafsack zusammenrollen – und all seine Schichten überziehen – und wurde bereits von einem üppigen Frühstück erwartet. Kurzes Briefing, Zähne putzen und losradeln. Um den Rest kümmerten sich die Heinzelmännchen.
Noch ein letzter Fünftausender und es ging bergab. Der Höhenmesser zählte immer schneller rückwärts und umgekehrt verhielt es sich mit dem Thermometer. Die Landschaft wurde zusehends grüner, die Bäche und Flüsse schwollen an, es wurde feuchter. Leben kehrte zurück, Vogelgezwitscher, der Duft von Pflanzen und Tieren. In ein paar Stunden vernichteten wir fast dreitausend Höhenmeter. Dies markierte das Ende des Himalajas und die Grenze zu Nepal. Wir übernachteten das letzte Mal in einem chinesischen Luxusschuppen und gönnten uns das letzte siedend heisse Vollbad!
Zhangmu/Kodari – Dhulikhel – Kathmandu
Nachdem wir die Grenze überschritten hatten, war es vorbei mit dem schön polierten Asphalt und wir holperten auf nepalesischem Strassen„belag“ nochmals fast zweitausend Höhenmeter bergab, bis wir uns mitten im Dschungel fanden. Bis Kathmandu waren es noch zwei Tage und wir sogen all die Exotik, die sich uns hier bot, wie Schwämme auf.
Bye bye chinesische Ordnung, hello nepalesisches Chaos!