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PeruEl Condor Pasa
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Yunguyo – Cuzco > Ins touristische Zentrum von Peru
Mit „bloss einen Steinwurf von Bolivien“ könnte man die Eindrücke unseres ersten Reisetages in Peru umschreiben. Der Reihe nach. Die bolivianischen Zöllner hatten nicht schlecht gestaunt über unser Neunzigtage-Visum, denn, wie wir von anderen Reisenden erfuhren, die teuer und umständlich ihr Dreissigtage-Visum verlängern lassen mussten, da sie an der Grenze erfolglos um ein längeres gebettelt hatten, reichte bei uns ein adretter Augenaufschlag (blau), um die Grenzbeamtin von unserem Anliegen, etwas längere Zeit in ihrem wunderschönen Land zu verbringen, zu überzeugen. Und eben, die Zöllner bei der Ausreise um einen wohlverdienten Zustupf in die Kaffeekasse in Form einer Busse wegen Überschreiten der Aufenthaltsdauer zu bringen. Das alles ist aber ist eigentlich Schnee von gestern, denn wir befinden uns ja bereits im Nachbarstaat, dessen freundliche Grenzer uns die Stempel wunschgemäss in eine freie Ecke unserer roten Pässe drückten. Wir müssen langsam anfangen, Seiten zu sparen...
Nach der Grenze änderte sich so gut wie gar nichts. Noch immer fuhren wir mehr oder weniger dem Ufer des Titicacasees entlang, der Strassenbelag entsprach bolivianischem Standard, will heissen, ein Flickwerk aus Asphaltfetzen vergangener Jahrzehnte. Die kleinen Dörfer zierten noch immer strohgedeckte Lehmhäuser und ewig halb fertige unverputzte Backsteinbauten. Schafe, Esel und Kühe grasten oder besser gesagt staubten auf den trockenen Feldern, Schweine steckten ihre Nasen in den Dreck und die Hunde lagen friedlich am Strassenrand. Frauen in ihren traditionellen Aymara-Trachten gingen Wolle spinnend hinter ihren Herden, Männer zerfurchten mit Ochsenpflügen den Boden und dicht an uns vorbei rasten die hupenden Minibusse: also eigentlich alles beim Alten. Wir hatten es uns eigentlich auch nicht anders ausgerechnet, denn die Menschen, die hier um den See leben, sind wohl in erster Linie Aymaras und erst in zweiter Priorität Bolivianer oder Peruaner.
Und doch war es anders, hier entlang zu fahren. Was uns in ganzen zwei Jahren bis jetzt bloss einmal passiert ist, und zwar vor geraumer Zeit in Tansania, wurde am ersten Tag im neuen Land quasi zum Regelfall: Man warf mit Steinen nach uns! Die erste Attacke von Schulkindern nervte uns zwar gewaltig, wir taten sie jedoch als dummen Bubenstreich ab. Als sich dies jedoch nach ein paar Kilometern wiederholte und eine dritte Attacke von Erwachsenen lanciert wurde, fanden wir es definitiv nicht mehr lustig. Was ist denn hier passiert, dass die Touristen auf diese Art Willkommen geheissen werden? Wenn es das ist, was wir von Peru erwarten können, sind wir aber schnell wieder weg! Es war ja nicht so, dass diese Steinwürfe gefährlich gewesen wären, aber es tut der Seele nicht gerade gut, durch feindliches Gebiet zu radeln. Leider verpassten wir, die Leute zur Rede zu stellen und andere Peruaner, die wir darauf angesprochen hatten, konnten sich auch keinen Reim darauf machen. Wir kriegten aber nicht bloss Steine nachgeschmissen, das plötzlich allgegenwärtige „Gringo“ war wohl ebenfalls nicht gerade als Kosewort gedacht. He, ihr könnt uns doch echt alle mal!
Als wir am ersten Abend Bilanz zogen, versuchten wir einfach auch nochmals die netten Momente des Tages, die freundlichen Begegnungen, Revue passieren zu lassen. Wir mussten uns eingestehen, dass dies trotz allem überwog. Wenn es uns auch auf Anhieb nicht gleich gut gefiel wie in Bolivien, wollten wir uns die Laune nicht verderben lassen.
Der Gegenwind verhalf uns zu einem langen Tag und wir waren froh, in Ilave ein nettes Hostal zu finden. Hätte es Wasser gehabt, hätten wir uns wohl auch das Salz weggeduscht. Dann eben nicht. Dafür fanden wir den Fernseher umso interessanter. Nach monatelanger Absenz zogen wir uns auf HBOplus einen Film nach dem anderen rein. So cool! Fürs Nachtessen rafften wir uns doch noch auf und nach kurzer Inspektion der „Fressgasse“, entdeckten wir des Peruaners kulinarische Vorlieben. Es reihten sich ausschliesslich Pollo a la Brasa-Schuppen aneinander. Güggeli vom Holzkohlegrill – wenn sie überall so lecker gebraten sind wie hier, fallen wir nicht so schnell aus dem Leim. Das Dessert gab’s im Bett, vor der Glotze natürlich!
Eigentlich hätte die mehrtägige Fiesta im Städtchen ja erst in zwei Tagen beginnen sollen, aber die Leute konnten wohl nicht mehr warten. Gruppen von Panflötenspielern, unterstützt durch ein paar Paukisten, zogen die ganze Nacht hindurch um die Plaza. Wir taten kaum ein Auge zu und konnten die Stücke bald auswendig (waren es denn überhaupt verschiedene?). Als wir am nächsten Morgen weiterfuhren und ebenfalls noch eine Runde um den Dorfplatz machten, war das Publikum noch immer eifrig zu Anden-Rhythmen am tanzen. Dafür eigneten sich natürlich die bauschigen Röcke besonders gut. Noch immer voller Inbrunst, mit guter Lunge aber kleinen Augen traktierten die Mannen ihre Flöten. Konfetti flogen durch die Luft, in der Mitte stand ein Kasten Bier – Parallelen zur Luzerner Fasnacht waren unverkennbar. Ausser dass dort das Repertoire etwas grösser ist, selbst bei Länderböden tragenden Guuggemusigen, wobei böse Zungen mal behauptet haben sollen, man erkenne bei denen auch nicht auf Anhieb, um welches Musikstück es sich überhaupt handle. Egal. Wenn es nach Brö ginge, würde sich das Repertoire sowieso auf den „Berewegge“ beschränken. Aber das wisst ihr ja und hat jetzt mit unserer Reise langsam nicht mehr viel zu tun.
Die Strecke nach Puno bot landschaftlich nicht viel Aufregendes, der Gegenwind war noch immer präsent, aber, mal abgesehen vom noch immer allgegenwärtigen „Gringo!“ war es recht angenehm zum Radeln. Immerhin wurden wir nicht mehr gesteinigt – schon ein beachtlicher Fortschritt. Puno ist das touristische Zentrum im peruanischen Teil des Titicacasees und die Auswahl an Hotels und Restaurants dementsprechend gross. Wir bezogen unseren Schlag und erkundeten das Städtchen. Selbstredend, dass wir uns bald einmal in ein nettes Café verzogen und uns bei Cappuccino und Jugo (Fruchtsaft) der Tageszeitung und dem Tagebuch widmeten. Und die leckere Käsewähe mit Speck in der Auslage, liess uns gleich bis zum Nachtessen sitzen bleiben. Dafür nehmen wir doch noch ein paar „Gringos“ auf uns!
Von Puno aus unternahmen wir ein Bootsfährtchen auf dem berühmten See auf dreitausendachthundert Meter über Meer. Wir wollten uns die schwimmenden Inseln anschauen und schlossen uns einer Touristen-Tour an. Unser Führer mit dem Möchtegerne-Tom-Selleck-Schnäuzchen war, abgesehen von seinem Hang zum US-amerikanischen ganz in Ordnung. Man könnte die Inseln auch auf eigene Faust besuchen, käme so allerdings um die in unserem Falle interessanten Ausführungen, und ob so ein Besuch authentischer würde, ist zu bezweifeln. Manchmal ist es halt auch praktischer, ein Arrangement zu buchen (das sowieso nicht teurer ist, als auf eigene Faust) und einer Gruppe hinterherzulaufen. Wir sehen uns jetzt schon auf einer LZ-Leserreise. Wir tuckerten also im Boot raus zu den schwimmenden Inseln der Uros. Dieses Volk beschloss von ein paar hundert Jahren den Angriffen verfeindeter Stämme durch Flucht in die von Schilf überwucherte Bucht auf den See zu entkommen. Zuerst auf Schilfbooten, doch nach und nach wurden diese wohl zu Flossen und schlussendlich zu ausgeklügelten schwimmenden Inseln, die in einer Tiefe von fünfundzwanzig Metern im See verankert sind: Man nehme etwas torfähnliche Erde, binde davon grosse Stücke zusammen, belege dieses Floss mit vielen Lagen aus Schilf – fertig ist das selbst gemachte Eiland. Jeweils ein paar Familien teilen sich so einen Flecken Land, bauen ihre Hütten darauf (aus Schilf natürlich) leben vom Fischfang und heute, wie es aussieht, hauptsächlich vom Tourismus. Aber wer, wem Jim Knopfs „schwimmende Insel“ seinerzeit solchen Eindruck gemacht hatte, will sich die Chance, einmal so ein Eiland zu betreten, nicht entgehen lassen.
Der Ausflug führte uns noch zu einer anderen, dieses Mal echten Insel, nach Taquile. Auch die war reichlich touristisch, aber trotzdem sehr schön für einen Spaziergang. Die einheimischen Männer sassen allesamt strickend am Wegrand, die Mädchen boten einem geknüpfte Glücksbändel an und die Jungs hockten sich fotogen auf Mauern und Steinbänke. An Perus touristische Vollkommerzialisierung müssen wir uns echt noch gewöhnen. Und Machu Picchu war ja gar noch nicht erreicht...
Auf dem Weg in diese Richtung machten wir uns am nächsten Morgen. Die Tagesetappe war schnell abgestrampelt und wir wären beinahe an Juliaca vorbeigefahren, so früh waren wir dran. Zum Glück aber überlegten wir’s uns doch noch anders und quartierten uns in einem netten Hostal ein, in dessen Patio gerade eine Lehrerfortbildung stattfand. „Raum zum Spielen“ war auf den an den Wänden angehefteten Plakaten zu lesen. Das deckte sich mit den Slogans, die wir häufig bei Dorfeingängen sahen, im Stil von „Kinder brauchen Raum zum Spielen“ oder „Bildung und Spiel sind Wachstum“. In einem Gebiet, wo die Mehrheit der Menschen auf dem Land leben und über die Hälfte unter der Armutsgrenze, ist es wohl nicht selbstverständlich, dass den Kindern viel Freiraum zum Spielen bleibt. Allerdings sahen wir im Gegensatz zu anderen Ländern kaum Kinder, die Herden hüteten, was wohl bedeutet, dass sie zur Schule gehen (oder Verstecken spielen). Dass Letzteres und der Schulgang sich in Sachen Lernerfolg etwa die Waage halten, zeigt die desaströse Bilanz einer PISA-Studie in der Peru von dreiundvierzig Ländern den letzten Platz belegte. Erschreckt hat uns vor allem, dass über siebzig Prozent der Schüler, die Grundschule als funktionale Analphabeten verlassen. Über vierzig Prozent beherrschen die Grundrechenoperationen nicht. Fragt sich wirklich, was man hierzulande in acht Schuljahren lernt. Pisastudien können also für andere Länder noch leicht desaströser ausfallen als für die Schweiz. Ob‘s hier allerdings jemanden kümmert? Immerhin stand es in der Zeitung und das heisst, dass zumindest dreissig Prozent der Leserschaft auch versteht, was da geschrieben wurde...
Wir machten uns auf ins Städtchen. Brö schwenke in eine Konditorei ab und Patrizia zog alleine los, um die Gegend zu erkunden. Nach zwei Stunden kam sie, um zwei schicke Kunststofftaschen und viele Eindrücke reicher wieder. Das Städtchen war so quirlig und geschäftig, dass wir entschieden, noch einen Tag zu bleiben. Was Puno, der Touristenstadt fehlte, gab’s hier in Hülle und Fülle: Märkte, Chaos, Menschen und vor allem Trici-Taxi. Dreiradvelos mit bequemen Sitzbänken, mit denen man sich durch die quirrligen Strassen fahren lassen konnte. Wir genossen es, herumchauffiert zu werden und im dichten Verkehr über die Kreuzungen zu flitzen. Autos waren definitiv in der Minderzahl hier. Nachdem Patrizia tags zuvor die Märkte alleine abgeklappert hatte, schlenderten wir heute zusammen durch das unglaubliche Wirrwarr aus Menschen und Waren. Da und dort hielten wir ein Schwätzchen, schossen Fotos und ernährten uns an den fahrbaren Ständen. Während sich Patrizia am Ananas-Stand labte, hatte es Brö vor allem die fahrbare Madeleine-Backstube angetan. Wir fühlten uns pudelwohl hier und Juliaca trug wohl viel zur (zumindest temporären) Rehabilitation unseres Perubildes bei.
Die Leute waren äusserst freundlich und als wir als Überraschung und Dankeschön zwei Marktfrauen am Abend die Fotos brachten, die wir ein paar Stunden zuvor von ihnen geknipst hatten, waren sie sichtlich gerührt. Mit solchen kleinen Gesten kann man unglaubliche Freude bereiten und in unseren Augen ist es nicht mehr als Recht, dass wir etwas von unseren positiven Eindrücken auch wieder zurückgeben.
Das Hinausfahren aus Juliaca war ebenso chaotisch, wie die Stadt selber. Wir brauchten etwa eine Stunde dafür. Die Strecke war schöner als die letzten Tage, wir sahen kaum mehr Dörfer und auffallend waren die vielen streunenden Hunde am Strassenrand. Sie liessen uns aber alle schön brav vorbeiradeln, ohne zu knurren oder uns anzubellen. Bloss ein bisschen gutmütig und traurig schauen. Das können die Vierbeiner ja am besten. So, der „Dazer“, unser Hundebändiger wandert definitiv ins nächste Paket nach Hause.
Wir hatten gut dreihundertfünfzig Kilometer bis nach Cuzco vor uns und teilten uns die Strecke in plus-minus Siebziger-Etappen ein. So kamen wir trotz Gegenwind immer recht früh in den Ortschaften an. Zum Glück, denn am Nachmittag fing es jeweils zu regnen an. Und teilweise nicht zu knapp.
Wir schauten hinter der verglasten Veranda dem prasselnden Regen zu und tranken heissen Tee, schrieben Tagebuch. Die Strecke wurde flacher und wir radelten am nächsten Tag durch weite Ebenen Richtung Norden. Zwei Engländer, mit Mountainbike und Anhänger, fuhren uns entgegen, hielten ein kleines Schwätzchen, und wie wir uns am Strassenrand unterhielten, traf nochmals ein Quartett britischer Radfahrer ein. Nächstes Mal würden wir wohl auch diese Richtung wählen, denn während sie vom Wind geschoben wurden, traten wir erneut gegen unseren Kumpel in die Pedale. In den Bergen, auf die wir zusteuerten, braute sich langsam ein Gewitter zusammen. Die Sonnenstrahlen tauchten die Berghänge in goldgelbes Licht, während die Wolken dahinter immer schwärzer wurden. Es sah unglaublich schön aus. Es fing an zu tropfen und wir traten wie die Irren in die Pedale, um einigermassen trocken in Santa Rosa anzukommen. Wir hauten uns im einzigen uns äusserst einfachen Hostal des Dorfes auf die Federn. Der Sprint hatte uns wohl geschafft. Abschliessen konnte man das Zimmer nicht, hätte auch nicht viel gebracht, denn wo mal einen Scheibe in der Türe war, flatterte nun bloss noch ein Karton. Der Besitzer versicherte uns aber, dass es in Santa Rosa keine Ratones (Ratten = Diebe) gäbe, also zogen wir von dannen, setzten uns in ein Restaurant, wo wir fliessend von Vieruhrtee zum Nachtessen übergingen. Mehr zu tun gab’s nicht in dem winzigen Ort.
Senile Bettflucht fängt mit vierunddreissig Jahren an – jedenfalls bei Brö. Er juckte jeweils schon weit vor sieben Uhr aus den Federn und begann zu hyperventilieren. Taschen packen und Personen mit einem gesünderen Schlaf zu nerven. Mhhh. Es mussten sich jeweils beide zusammennehmen, um den Morgenmuffel nicht aus dem Sack zu lassen. Klappte natürlich nicht immer...
Es war noch recht kühl, als wir losfuhren und in gemächlichem Tempo durch die flache Pampa langsam den Las Reyes-Pass hochstiegen. Der Wind war für einmal für ein paar wenige Kilometer kaum spürbar und wir genossen die herrliche Altiplano-Landschaft. Immer wieder wurden wir von Kindern auf ihrem Schulweg begleitet. Wie damals in Afrika, wo uns die Bengel jeweils scharenweise nachliefen. Immerhin waren sie hier anständig und schmissen keine Steine nach uns und grüssten sogar freundlich. Nun wurde es doch noch etwas steiler, der Wind kehrte zurück, aber bald schon erreichten wir den gut viertausenddreihundert Meter hohen Pass. Von nun an ging’s bergab. Bald fiel uns auf, wie viel grüner es auf dieser Seite des Passes war. Den Talboden durchzogen Bewässerungskanäle und die bebauten Flecken leuchteten in saftigem Grün. Es war deutlich stärker bevölkert hier. Bald erreichten wir eine grössere Ortschaft, drehten eine Runde und liessen uns nieder.
Während Patrizia wie üblich die Unterkunft organisierte und Brö alleine mit dem Tandem wartete, fragten einige Kids, ob sie nachher mit seinem „Sohn“ spielen dürfen, wenn er zurück käme. Vielleicht sollte Patrizia ihre Haare doch wieder etwas wachsen lassen... Mit einem Trici-Taxi fuhren wir zur Plaza und mussten das Gefährt notfallmässig stoppen, da wir einen fahrbaren Madeleine-Bäcker entdeckten. Darf man sich ja nicht entgehen lassen! Den Tee etwas später allerdings schon, denn Tee mit Milch bedeutet hier: eine Tasse heisse Milch mit Fettaugen und „Schlänggen“ inklusive einem Teebeutel. Milchkaffee: auch nicht besser. Ein kurzer Rundgang durch den Markt, Pollo a la Brasa, zurück zum Hotel spazieren. Eigentlich waren wir müde und wollten schlafen, daraus wurde aber leider nichts. Unser Reiseführer verschwieg grosszügig, dass es sich bei unserem Hostal wohl um ein verkapptes Stundenhotel handelte, folglich hatten wir während der ganzen Nacht Programm. Gestöhne und quietschende Bettgestelle ging in Streitereien und knallende Ohrfeigen über und umgekehrt. Angenehme Träume!
Heute war ein richtiger Pausentag. Eigentlich hätten wir angesichts der hundert recht hügligen Kilometer ein bisschen Gas geben sollen, wir trafen aber unterwegs so viele Radler wie noch nie. Zuerst zwei bärtige Amis mit Superminimal-Gepäck (schienen auch bloss ein T-Shirt pro Person dabei zu haben... :-). Englisch. Etwas später hielt ein Franzose in seinem obercoolen Landrover, der uns unbedingt seine Fotoalben zeigen wollte. Französisch (mehr schlecht als recht, denn das Castellano schien mittlerweile das Vocabulaire aus unseren Hirnwindungen verdrängt zu haben). Eine halbe Stunde später trafen wir auf ein deutsches Pärchen, er Panamericanaradler, seine Freundin auf ein paar Wochen zu Besuch. Hochdeutsch. Zu guter Letzt kam uns ein Belgier auf seinem Rad entgegen. Castellano, mangels Flämisch. So, liebe Kinder, ihr wisst, was jetzt kommt: Das Wichtigste in der Schule, neben Lesen (und auch Verstehen, was man liest, gell!) und Rechnen (damit man nicht dauernd über’s Ohr gehauen wird – was sich natürlich trotzdem nicht ganz immer vermeiden lässt), sind Fremdsprachen. Hätte das dem lieben Brö doch bereits vor zwanzig Jahren eingeleuchtet. Wobei, das Sprachzentrum scheint bei Frauenhirnen sowieso ein bisschen ausgeprägter zu sein. Wieso sonst müsste er sich sonst so Sprüche wie „Y él, no habla?“ („Und er, spricht er nicht?“) oder „Geh lieber du (Patrizia) bezahlen, ihm hört man auf hundert Kilometer an, dass er ein Gringo ist und man verlangt ihm das Doppelte!“. He, bloss weil die Frauen dauernd quasseln und fremdsprachlich etwas agiler sind, heisst das noch lange nicht, dass man die Mannen für dumm verkaufen kann (Anm. Brö)!
Wie auch immer, wir konnten uns also auf alle möglichen Sprachen mit den Velölern, die wir heute trafen, unterhalten und alle sagte uns, wir seien die ersten Radler seit Ewigkeiten, die sie getroffen hätten. Schon lustig, sie waren in Abständen von vielleicht einer Stunde voneinander unterwegs und wussten nichts voneinander. Ansonsten funktioniert ja das Tourenradlerbuschtelefon recht gut, aber hier hatte es wohl definitiv zu viele gleichzeitig auf der Strasse.
Die letzte Etappe hinauf nach Cuzco war trüb. Nicht bloss deshalb, weil uns die dunklen Wolken die erste Regenfahrt seit Monaten bescherten, sondern vor allem weil wir während rund dreissig Kilometern den gesammelten und ungeklärten Abwässern der feinen Inkastadt, sprich einem übel stinkenden Fluss entlangfuhren. Es war überhaupt vielfach ein trauriges Bild, das sich in Peru bot. Es war mit Abstand das dreckigste Land, das wir bis jetzt besuchten. Müll wird nicht entsorgt, sondern bloss liegen gelassen, aus dem Fenster geschmissen. Die Bachbetten waren gefüllt mit Unrat, die Weiden und Wiesen auch, die Strassen sowieso und auch die Hinterhöfe der Häuser. Echt schlimm. Dass die Peruaner ein etwas anderes Sauberkeitsempfinden haben als wir, riecht man auch beim Gang durch die Gassen. Ungehemmt lassen Männer und Frauen (dafür sind die bauschigen Röcke natürlich besonders praktisch) fahren, wann und wo sie immer gerade die Blase drückt. Das kann mitten auf der Strasse, an jeder Hausmauer oder auch mitten auf der Plaza sein. Dass sie sich und ihre Kleider nicht so häufig waschen, wie dies eine einigermassen angenehme Duftaura voraussetzen würde, ist angesichts der mangelnden oder dürftigen sanitären Einrichtungen ja noch nachvollziehbar. Aber viele scheren sich offenbar schlicht keinen Deut um ihre eigene Sauberkeit, sodass es nicht erstaunt, dass sie ihre Hinterlassenschaften überall liegen lassen.
Auf den Abfall angesprochen, hat uns mal jemand gesagt, „Plastiksäcke und Petflaschen habt ihr aus den entwickelten Ländern zu uns gebracht, aber keine Lösungen für den Güsel!“. Moment. Kraftwerke bauen, Auto fahren und ein Handy bedienen, das könnt ihr schliesslich auch, liebe Leute, dann solltet ihr wohl auch in der Lage sein, euren Abfall zu entsorgen. Oder zumindest, nicht einfach bloss auf die Strasse zu schmeissen.
Solche Dinge haben wir oft gehört, wie auch „Ihr habt sicher überall schöne Strassen zuhause und hier macht niemand was!“ oder Ähnliches zur Infrastruktur. Dass wir zuhause kräftig dafür Steuern zahlen, davon wollten sie natürlich nichts hören. Na gut, ob wir unsere Steuern bloss für korrupte Präsidenten und Staatsangestellte bezahlen möchten, die da unten in Lima sowieso machen, was sie wollen, ist fraglich. Die in Bern oben sparen wenigsten neuerdings alles weg. Im Grunde aber auch nicht intelligenter.
Cuzco – einstige Hauptstadt des Inkareiches, heute Zentrum des Tourismus in Peru. Mit allen Vor- und Nachteilen, die automatisch damit verbunden sind. Ein Nachteil (zumindest für Veloreisende), der eher auf die lange Geschichte und die Lage der Stadt zurückzuführen ist, sind die engen und steilen Kopfstein gepflasterten Strassen. Erschwerend kommt hinzu, dass diese ganz plötzlich in Treppen übergehen können, was natürlich einer Hotelsuche mit voll beladenem Tandem nicht gerade dienlich ist. Teilweise schiebend und über Umwege fanden wir aber per Zufall ein sehr schönes Hostal mit gedecktem Patio in einer ruhigen Seitengasse unweit des Zentrums. Zum Rumschlendern war Cuzco mit seinen verwinkelten Gässchen wirklich super schön. Rechts und links türmten sich die Überreste alter Inkamauern auf, die als Fundamente für koloniale Paläste, Kirchen und Kathedralen aus der Zeit der spanischen Conquistadores dienten, nachdem die Tempel und religiösen Bauten der Inkas geplündert und zerstört wurden. In unseren Augen wird hier zwar ein bisschen viel auf Super-Inka-Hochkultur gemacht, aber eines muss man denen lassen: Mauern bauen, das konnten sie. Als Gesamtkunstwerk zwar nicht so imposant wie ägyptische Pyramiden, die Chinesische Mauer oder Grand Dixences, im Detail aber so perfekt gearbeitet, dass die riesigen, tonnenschweren Steine noch heute, über ein halbes Millennium und einige Erdbeben später noch immer passgenau aufeinander liegen.
Der Akkumulation von Touristen ist es
jeweils zu verdanken, dass sich nicht bloss Tourenanbieter und Souvenirshops
aneinanderreihen, sondern sich ebenfalls nette Restaurants in allen Variationen
ansiedeln. Die ersten beiden Nachtessen „Menú economico“ in lokalen Restaurants
bereuten wir zeitversetzt zwei, respektive zwanzig Stunden später. Nachdem
Patrizias Darmflora bereits kurz nach dem Essen kapitulierte, leisteten Brös
Magensäfte etwas länger Widerstand. Wir lösten uns also, wie in einer guten
Paarbeziehung üblich, mit Tee kochen, Bauchkrämpfen, Erbrechen und anderen
unschönen Sachen ab. Für den restlichen Aufenthalt in Cuzco vermieden wir die
billigen Spunten und hielten uns an die Tourirestaurants. Dies ist zwar auch
nicht immer Gewähr für verdauungsneutrales Essen, aber hier konnten wir damit
Rückfälle bis auf eine Ausnahme verhindern. Ein Blick in den Spiegel zeigte,
dass der Mix aus Höhe, teilweise monotonem Essen und Durchfall seinen Tribut
zollte. Bolivien und Peru können wir unter Übergewicht leidenden Menschen als
Idealdiät empfehlen. Wir sahen mittlerweile etwas ausgemergelt aus. Speckwülste
und Fettpölsterchen ade. Mama hätte gar keine Freude daran. Nächstens können
wir in einer Anti-Bulimie-Kampagne mitmachen. Keine Angst, wenn's
kritisch wird, fliegen wir kurz für ein paar Monate runter nach Argentinien,
dort sind ein paar Pfunde schnell wieder angespeckt!
Machu Picchu, dieser Name brennt sich wohl in den Köpfen aller Schulkinder ein, sogar bei jenen, welche „Geschichte“ bloss für ein Haufen altertümlicher und fremdartiger Namen halten. Und auch wenn es wohl nur ein unbedeutendes Bauerndorf im grossen Inkareich war, der Umstand, dass es viele Jahre im Dschungel verborgen war und sich somit zumindest der Zerstörung durch Menschenhand entzog, machte die Stätte zurecht zum Touristenmagneten Perus, ja, ganz Südamerikas. Einfach daran vorbeistrampeln wäre eine Sünde. Auch wenn der Staat, PeruRail und alle anderen, die sich eine goldene Nase an den Gringos verdienen wollen, alles daran setzen, einem die Sache zu verleiden. Man stelle sich vor: In der Nummer-Eins Tourimetropole des Kontinents ist es sonntags unmöglich irgendwelche Eintrittstickets, Infos oder dergleichen zu besorgen. Museen sind sowieso geschlossen – wo hier doch sonst immer alle Läden und Büros täglich und bis spät in die Nacht geöffnet sind.
Montagmorgen früh packten wir unsere Rucksäcke und machten uns auf den Weg in die Stadt. Bereits beim Kauf der Zugsbillette nach Aguas Calientes (und es bleibt einem nichts anderes übrig als den völlig überteuerten Zug zu nehmen um dort hinzugelangen) verflog unser Enthusiasmus. Heute sei bereits alles ausgebucht, morgen Abend die früheste Möglichkeit. Und überhaupt, nachdem wir eine Stunde angestanden waren, habe der Schalter bereits für den Rest des Tages geschlossen. Es war neun Uhr morgens! Schalteröffnungszeit: fünf bis neun – sehr touristenfreundlich. Für ein paar zusätzliche Dollares hätte es natürlich Alternativen gegeben, aber ebenso natürlich liess sich dies auf keine vernünftige Art mit unseren Plänen kombinieren, ausser, wir hätten nochmals ein paar zusätzliche Scheine (US) hingeblättert. Wir kauften die „Sparvariante“ und zogen von dannen. Nächstes: „Boleto turistico“, ein paar weitere grüne Scheine, um ein paar fadenscheinige und zwei, drei wirkliche Sehenswürdigkeiten in Cuzco und im Valle Sagrada zu besuchen. Anderes Büro: Eintritt nach Machu Picchu, nochmals eine Handvoll Noten wechselten die Besitzer. Am anderen Ende der Stadt: Fahrkarten für den Bus von Aguas Calientes zu den Ruinen – wie zu erwarten unverhältnismässig teuer. Letzter Halt: Tagestour nach Ollantaytambo – fast schon ein Schnäppchen.
Geschafft! Frühstück mit Blick auf die Plaza und Pläne den erstandenen Tickets gerecht umbiegen und erneut im Hostal einchecken. Zum Glück trafen wir auf dem Weg auf Mirjam und Jörg, die wir in Bolivien kennengelernt haben, so konnten wir in Heidis Granja bei gefüllten Crêpes, Schokoladentorte und Cappuccino ein bisschen Dampf ablassen. Zwei andere Schweizer, die wir trafen, brachten es auf den Punkt: Noch ein paar Dollares mehr und der Besuch von Machu Picchu würde sich bald nicht mehr lohnen. Und wohl verstanden, wir wählten die günstigste Alternative. Man könnte auch locker fünfhundert Dollar alleine für die Zugfahrt hinblättern. Retour immerhin, und das Cüpli von weissen Handschuhen serviert. Die spinnen, echt.
Wir hatten noch Zeit, um uns vor der Abfahrt mit dem Touristenbus ein Frühstück mit Blick auf die Plaza zu genehmigen. Als alle Schäfchen eingesammelt waren – dauert ja immer etwas – ging’s los Richtung Valle Sagrada, dem geheiligten Tal der Inkas. Es war regnerisch und trüb, das einzige Strahlen war das künstliche Lächeln unseres Führers beim Beenden eines jeden Satzes. Wir konnten bald nicht mehr hinsehen, so penetrant war es und unser Blick ruhte auf der vorbeiziehenden Landschaft. Wir hatten volles Programm. Natürlich war der erste Stopp bei einem Souvenirmarkt, wo uns gerade mal fünfzehn Minuten zugestanden wurden. „Comprame, amiga!“ – „Kauf mir!“. Beim Markt in Pisac verhielt es sich nicht viel anders, was angesichts des Regens und da wir die Artesanias (Kunsthandwerk, mehr oder weniger künstlich, mehr oder weniger künstlerisch) bald auswendig kannten, nicht weiter schlimm war.
Das Mittagessen war natürlich auch wieder so ne Touristenfalle. Was hier grossartig als Buffet angepriesen wurde – Hauptbestandteile Huhn und Reis – kriegt man anderswo auch für einen Bruchteil des Preises. Wenigstens zogen noch ein paar fröhliche Panflötler umher und hausierten mit dem peruanischen Gassenhauer schlechthin, El Condor Pasa. Bei diesem Stück gewinnt der, der es am langsamsten spielen kann. Alleine die ersten vier Takte dauern eine Ewigkeit, als ob es darum ginge, das Publikum in Trance zu versetzen. Hommm...
Unser Guide führte uns durch zwei Inkaruinen und erklärte eifrig viele Details zur Geschichte. Zusammen mit Horden anderer Touris wurden wir durch die alten Mauern geführt. War ganz nett, immerhin regnete es nicht mehr. Ollataytambo war dann doch recht eindrücklich, schade eigentlich, dass es nie ganz fertig gebaut wurde. Wir nabelten uns unauffällig von der Gruppe ab und streunten selber noch ein wenig herum, bis es dunkel wurde. Dann setzten wir uns zum Nachtessen in ein Restaurant und warteten auf den Zug. Ein knatternder Dreiradtöff brachte uns zum Bahnhof, wo wir uns an der langen Schlange vorbeischmuggeln durften. Die Einheimischen mussten anstehen, während sich die ausländischen Touristen schon mal in ihre separaten Waggons setzen konnten. Welch unglaubliche Diskriminierung, aber schliesslich bezahlten wir ja auch zehnmal mehr für das Zugticket... Der Zug setzte sich pünktlich in Bewegung und ratterte gemächlich talabwärts. Sehen konnte man natürlich nichts, es war ja bereits stockdunkle Nacht. Zwei Stunden später trafen wir in Aguas Calientes ein und liessen uns in ein muffiges Zimmer abschleppen. Wählerisch waren wir nicht – einzige Bedingung: eine funktionierende Toilette. Bei Patrizia waren wieder einmal die Colibakterien am Werk.
Wir weckten uns um fünf Uhr und Patrizia konnte sich dank der Bauchkrämpfe kaum aufrichten. Jammern hatte keinen Sinn, wir wollten rauf nach Machu Picchu. Auf dem Weg zum Bus schnappten wir uns einen Becher Kaffee, respektive Cocatee, der dann allerdings während der holprigen Fahrt mehrheitlich über Hosen und Schuhe verteilt wurde, statt beruhigend auf den Magen zu wirken.
Wir waren praktisch die Ersten, die die Stadt betraten uns es war ein wunderschöner Anblick, wie die fünfhundertjährige verlassene Inkastadt menschenleer im Morgenlicht zu unseren Füssen lag. Allein dafür lohnte sich die Reise. Wir streiften durch die erstaunlich gut erhaltenen Häuser uns stellten uns vor, wie wohl ein europäisches Bauerndorf aussehen würde, das um Fünfzehnhundert aufgegeben und seither unangetastet blieb. So viel anders vermutlich nicht. Statt Sonnentempel eine Kapelle, statt astronomischem Allzweckstein allenfalls eine schlichte Sonnenuhr. Als sich die Stätte langsam mit Menschen füllte, stiegen wir auf den Huayna Picchu hoch. Über steile Pfade und noch steilere Treppenstufen. Man musste auf Zehenspitzen gehen, da die Stufen etwa dreimal so hoch wie tief waren. Das war natürlich vor allem beim Abstieg etwas erschwerend, weil ja jetzt die Zehen auf der falschen Seite waren. Die Inkas schienen kleine Füsse gehabt zu haben.
Vom Gipfel aus hatte man einen atemberaubenden Ausblick auf Machu Picchu und wir verdrückten an der Sonne unseren illegal eingeschmuggelten Lunch. Genug damit, dass sie einem Essen und Trinken verbieten auf dem Gelände (des Abfallverhaltens des Peruaners wegen allerdings verständlich), aber dass nirgends eine Toilette zu finden war, war schon etwas unpraktisch, vor allem bei Dünnpfiff. Zum Glück führte der Pfad durch ein kleines Wäldchen...
Um die Mittagszeit hatte die Ruinenstadt bereits jegliche Magie eingebüsst, so viele Besucher tummelten sich auf dem Areal und nur noch mit sehr viel Vorstellungsvermögen sah man im ganzen Rummel ein Bergdorf vor sich. Und als wir am frühen Nachmittag die Ruinen verliessen, standen die Leute immer noch Disneyland-mässig Schlange vor dem Eingangstor. Zurück in Auguas Calientes legten wir uns eine Runde aufs Ohr und inhalierten die Pilzsporen geschwängerte feuchte Luft unseres Etablissements. Anschliessend wollten wir eigentlich eine Runde baden gehen in den Thermen, die dem Ort seinen Namen gaben. Bevor wir die Becken erreichten, machten wir allerdings bereits wieder kehrt und verhökerten die überteuerten Tickets anderen ahnungslosen Touristen. Vielleicht waren die ja weniger heikel oder hatten einen Schutzanzug mit dabei. Setzten wir uns halt stattdessen in ein Café und etwas später in ein Restaurant. Die Happy Hour, drei für eins, galt natürlich nicht für das eben bestellte Bier und selbst wenn man das richtige erwischt hätte (welches selbstredend vergleichsweise teurer war), hätte man bloss jedes dritte gratis gekriegt. So liessen wir uns hier den lieben langen Tag nach Strich und Faden über’s Ohr hauen und ausnehmen wie fette Weihnachtsgänse. Brö kriegte langsam eine handfeste Aggression gegen diese Abzocke. Was glauben die eigentlich? Bloss weil vor fünfhundert Jahren ein paar Bauern da oben auf dem Hügel mal ein paar Steine aufeinanderschichteten, damit sie nicht im Freien schlafen mussten, könne sich nun jeder Depp eine goldene Nase verdienen, ohne auch nur einen Finger dafür zu rühren? Wenn wenigstens der Service stimmen würde, dann liesse man ja locker ein paar Piepen mehr springen. Aber so? Brö hatte es bis hier oben (Geste: rechte Hand oberhalb Nase) und Patrizia musste ihn an die Leine nehmen, damit er dem Kellner, stellvertretend für alle anderen Profiteure, nicht an die Gurgel sprang.
Wir mussten abermals zu unchristlicher Zeit aufstehen, denn unser Zug sollte um Viertel vor sechs losfahren. Sollte. Wir standen nämlich mit einer Menge anderer Touristen vor verschlossenen Toren. Irgendwie erfuhren wir, dass die Strecke auf der wir zurück wollten, verschüttet sei und es in zwei Stunden weitere Infos gäbe. Nach einigem Suchen fanden wir einen Laden, der bereits geöffnet hatte, und bestellten uns ein Frühstück. Der Fluss, der unter der Terrasse vorbeifloss, war im Gegensatz zu gestern ziemlich braun und mächtig angeschwollen. Irgendwo hatte es also kräftig geregnet heute Nacht. Um acht wussten sie noch immer nichts Neues und man vertröstete uns abermals auf später. So verbrachten wir den ganzen Morgen im Bahnhofsbuffet, tranken überteuerten (okay, Thema abgeschlossen) Cappuccino, lasen und amüsierten uns an den sporadisch durchgeführten Kundgebungen vor den Schaltern. „Quieramos una solución!“, „Wir wollen eine Lösung!“ hiess das Motto und einige legten sich ganz schön ins Zeugs. Uns war’s eigentlich egal, wann der Zug fuhr, Hauptsache, wir mussten nicht noch eine weitere Nacht in der Tropfsteinhöhle verbringen.
Um zwei Uhr nachmittags wartete PeruRail dann tatsächlich mit einer Lösung auf, zur Erleichterung aller. Was sich aber dann abspielte, war im Grunde eine Tragödie. Obwohl klar war, dass alle, die bereits auf dem Bahnhofsgelände warteten, auf den Zug konnten, entstand so was wie eine Panik und die Leute drängten sich rücksichtslos nach vorne durch den einzigen Zugang zum Perron. Gewisse Zeitgenossen benahmen sich wie ausgemachte Idioten. Man hätte meinen können, die Bahnhofshalle stünde in Flammen und es ginge um Leben und Tod. Man wagt sich in solchen Situationen gar nicht auszumalen, wie so etwas ablaufen würde, wenn tatsächlich mal etwas Ernstes passiert. Dass Menschen zu Tode getrampelt werden, wenn bei Massenveranstaltungen Panik ausbricht, mag einem angesichts dessen wirklich nicht mehr zu erstaunen. Tragisch.
Wir stiegen praktisch als Letzte ein und konnten es uns nicht verkneifen, ein paar fette Amiweiber zurechtzuweisen, die gerade erst reingekommen waren und sich bei ihrer Reiseführerin über die Backpacker mokierten, die bereits seit acht Stunden Däumchen drehten und etwas agiler in die Wagen kletterten als sie. Nachdem sich die hitzigen Gemüter abgekühlt hatten und sich der Zug in Bewegung setzte, wurde es zu einer gemütlichen Fahrt. Bis Kilometer zweiundachtzig, wo wir für einen kurzen Abschnitt auf Busse umsteigen mussten. Wiederum zwei Stunden Schlange stehen und dieses Mal traf es die Reisegruppe Windrose aus deutschen Landen, die drängelte, was das Zeug hielt und sich von uns eine kurze Moralpredigt anhören musste. Ja, schon klar, es bringt nichts. Aber manchmal kann man einfach nicht anders. Erneut schafften wir es, im Verlaufe des Anstehens etliche Ränge einzubüssen und praktisch an den Schwanz zurückzufallen. Als wir wieder in den Zug einstiegen, hatten wir ein Viererabteil ganz für uns alleine. Und die Moral von der Geschicht': Drängeln lohnt sich nicht! Es wurde bald dunkel und nach einigen Stunden erblickten wir vor uns die Lichter Cuzcos. Sah umwerfend aus. Der Zug fuhr gemütlich im Zickzack hinunter in die leuchtende Stadt.
Wir verbrachten nochmals eine Woche in Cuzco, denn dort gefiel’s uns wirklich gut. Wir trafen alte und neue Bekannte, gingen auswärts Essen. Währschafte deutsche Spezialitäten mit den aufgestellten mundialen Velölern Esther und Dänu und ihren Eltern, gut schweizerisch, Züri G'schnätzelts mit Rösti und Rotkraut (Cervelats waren leider gerade ausverkauft) mit Mirjam und Jörg, und Italienisch mit Olivia und Yves, zwei anderen Tandemlern (Liegevelo!), die wir per Zufall im Veloladen angetroffen hatten. Ein Highlight, vor allem für Patrizia, war das Treffen mit Steffi, einer ehemaligen Arbeitskollegin, die ein paar Jahre in Israel gelebt hatte mit ihrem Partner Guy, die zufällig hier in der alten Inkastadt auftauchten. So mussten wir uns bald einen Besuchsplan zurechtlegen, um alle Bekanntschaften nochmals zu sehen. Zum Dessert gab es auf dem Nachhauseweg meistens noch Milchreis mit Fruchtkompott beim alten, liebenswerten Fraueli auf der Plaza San Blas. So lecker!
Angesichts der allabendlichen Völlerei hielten wir uns mittags an die köstlichen Jugos am Markt. Dort reihte sich Stand an Stand mit den gemixten Fruchtsäften. Superfeine Vitaminbomben. Normalerweise kriegte man das Glas zweimal nachgefüllt – wenn wir da an unsere langweilige Biotta-Saftkur zurückdenken... So appetitlich wie in der Fruchtabteilung war es allerdings nicht überall im Markt. In der Fleischabteilung wurde uns schnell klar, wieso wir hier öfters Magen-Darm-Geschichten hatten. Es tropfte, blutete, spritze, das Fleisch lag teilweise auf dem, gelinde gesagt, saudreckigen Boden rum, die Hunde schnupperten und schleckten daran, bis sie eins aufs Dach kriegten. Fleisch, Knochen, ganze Kuhköpfe wurden auf dem alten blutigen Spaltstock mit der Axt zerkleinert, Schafsköpfe mit der Säge aufgeschnitten, Därme und Mägen in trübem Wasser ausgewaschen. Nebenbei schlürften die Marktleute genüsslich ihre geliebte Caldo de Cabeza, Schafskopfsuppe – e Guete!
Vielfach ging Patrizia alleine zum Markt (und zum Souvenir shoppen natürlich) während Brö im Hostal auf der zum Glück gedeckten Innenveranda Kaffee in sich hineingoss und irgendwas rumsöselte. Andern Tags, gleiches Spiel, ausser dass Brö seinen Kaffee auf dem Balkon eines Cafés an der Plaza nippte. Patrizia kam genervt vom Markt zurück und beinahe wäre die Fotokamera in hohem Bogen auf dem Kopfsteinpflaster fünf Meter weiter unten gelandet. Das Ding (die Kamera natürlich) hatte mal wieder seine fünf Minuten und zeigte bloss noch Schwarz auf dem Display. Ähnliche Probleme hatten wir bereits früher in den Griff gekriegt und auch für diese Macke fanden wir eine apropriate IXUS-Wiederbelebungstechnik: die Kamera kopfüber, je nach Strapazierungsgrad der Nerven mehr oder weniger stark in die Handinnenfläche hauen und ihr sind erneut ein paar Bilder zu entlocken. Tja, die Fotoapparate haben sich zu unseren Sorgenkindern Nummer eins gemausert und sind wohl das Nächste was wir austauschen oder auf den Mond schiessen. Sind wohl schlicht nicht für den Dauereinsatz und den nicht immer ganz erschütterungsfreien Transport konzipiert, diese Digitalkameras von heute.
Wir hatten noch immer unser teures Boleto Turistico im Sack und bei Schlechtwetter besuchten wie die darin inbegriffenen, teilweise sehr netten, teils etwas gar schlichten Museen der Stadt. Für die wirklich lohnenswerten galt es selbstredend nicht. Auch eine Folkloreshow zogen wir uns rein. Und natürlich stachen Brös blaue Augen einmal mehr aus dem Meer schwarzer Augenpaare heraus, was ihm, ebenfalls natürlich, zu einem Tänzchen mit einer bauschig berockten zöpfchenschwingenden und strammbeinigen Andenschönheit, zur Belustigung des Publikums, verhalf.
Nochmals Gedankensprung: Was gibt es eigentlich an der God-TV-Front? Die Fernsehprediger hielten sich bis anhin in Südamerika eher zurück. Ab und zu eine Klosterfrau im Kochstudio, die währschafte Menus zelebrierte und viel, viel „Radio Maria“ aus den Radios in den Marktnischen. Nichts Spektakuläres also, bis auf einmal, als wir zufällig übers Kinderprogramm gezappt sind. Da predigte doch so ein kleiner Knirps mit Schlips und dem Wort Gottes in der Hand statt Kinder-, Bibelverse und stand mit seiner Mimik und der Wortgewandtheit um nichts seinen Vorbildern aus dem Glitzer-Glanz-und-Gloria-Showbiz nach. Die Kinder im Publikum taten allen Ernstes so, als stünde der Messias leibhaftig auf der Bühne und gerieten beinahe in Ekstase. Voll schräg! Danach folgten die Teletubbies.
Die Predigt in der grossen goldgeschmückten Kathedrale Cuzcos war dann von ganz anderem Schrot und Korn. Der Pfarrer wetterte nicht schlecht über Steuersünden und andere Vergehen am Zivilstaat, schliesslich habe es die Maria auch nicht gerade leicht gehabt und doch rechtschaffen gelebt. Reisst euch also ein bisschen am Riemen ihr armen Sünder! Und wie er gerade so schön in Fahrt war, hat er die Anerkennung von Schwulenehen und andere Verwerflichkeiten abgekanzelt. Wir konnten seinen Gedankengängen nicht immer ganz folgen und als die Marschmusik draussen die nicht wirklich schönen Kirchengesänge zu übertönen begann, schlichen wir uns raus. Bevor wir wegen allfälliger vorehelicher Immoralitäten oder anderer gravierender Verstösse gegen das katholische Moralempfinden ins Beichthäuschen eingesperrt wurden.
Jeden Sonntag findet auf der Plaza ein Fahnenaufzug mit allem Drum und Dran statt. Wir sicherten uns aus purem Zufall die besten Plätze auf der Treppe vor der Kathedrale und verfolgten von dort aus das Defilee. Viel Militär, einige Prominenz und Gruppierungen aller Art zogen im Stechschritt vorbei. Frauen, Kinder jeden Alters, Männer mit Bierbäuchen, alle schletzten die Beine so hoch es eben ging im Takt der Pauken, was teilweise recht lustig aussah. Aber hier gehört das eben dazu und die stolzen Gesichter machten den Mangel an Grazie leicht wieder wett. Jede Parade in Peru – und wir sahen einige davon – hatte ihr eigenes Flair, doch der Stolz der Mitlaufenden und die Freude des Publikums war allen gemein. Eine riesige Staatsflagge und das regenbogenfarbige Inkabanner wurden über der Plaza gehisst und der Feldweibel stimmte in die Nationalhymne ein. Zum Strammstehen wurden dann selbst die Touristen genötigt, obwohl man eigentlich ganz von selbst in den kollektiven militärischen Patriotismus verfiel.
Cuzco – Huaraz > Über (und unter) den Wolken
Beinahe wären wir wieder ein bisschen länger hängen geblieben in Cuzco. Doch zum Glück hatten wir ein Busticket im Sack und chlöpften also die letzten Verrichtungen hin, wie Paket verschicken, eine letzte Therapielektion, ein letzter Jugo auf dem Markt schlürfen und einen letzten Kaffee auf der Plaza, bis wir am späten Nachmittag vollbepackt zur Busstation fuhren. Entgegenkommende Radler hatten uns vorgewarnt, dass die Strasse gegen Norden sehr schlecht sei und selbst mit einem normalen Velo kein Schleck. Also setzten wir unsere Reise vorderhand mit dem Bus fort. Auch deshalb, weil sich Patrizias Knie – nun hatte es sie erwischt – noch immer in der Schonphase befand. Ein paar Tage lang gezielte Übungen mit dem Gummiband unter fachgerechter Anleitung rückten dann aber die Kniescheibe relativ zügig wieder an die rechte Stelle, damit das Knie nicht erneut aus heiterem Himmel blockierte.
Eine Durchschnittsgeschwindigkeit von gut zwanzig Stundenkilometern bestätigte zwar die Aussage der Velofahrer, obwohl uns der Weg gar nicht mal so schlimm dünkte. Vielleicht lag es ja auch daran, dass wir im Bus sassen und nicht auf dem Fahrradsattel.
Busfahren in Peru wird insofern zum Event, dass immer wieder Verkäufer zusteigen und in langen Monologen ihre Waren feilbieten. Seien dies nun Entwurmungstabletten, Kugelschreiber oder Lehrbücher. Unser Favorit war eindeutig die Allerweltsheilcrème, von der jeweils alle Buspassagiere probieren durften und die so angenehm nach Dul-X roch. Mit den Körpergerüchen gab die einen vertrauten Geruch nach Umkleidekabine. Fehlte nur noch Dusch-Das. Obwohl es längst keine Sitzgelegenheiten mehr gab, stiegen immer wieder neue Leute zu und machten sich’s, wo es eben ging, bequem, legten einem den Arm um die Schulter oder streckten einem den Hintern an den Kopf. Echtes Umkleidekabinen-Feeling eben.
In Abancay, einem kleinen Ort mit sechsunddreissig Kirchen, unterbrachen wir unsere Reise für einen Tag. Kann ja nicht schaden, wenn man eine Kerze anzündet, angesichts des Fahrstils und der luftig ausgesetzten und ungesicherten Strassen. Trotz dieser Anhäufung von Gotteshäusern wurden wir am Abend Zeugen einer Massenhochzeit mit dreizehn Paaren. Vielleicht ist in Peru das Problem des Pfarrermangels eher noch dringlicher als im Bistum Basel. Dass zumindest zwei Priester hier tätig waren, sahen wir am nächsten Morgen, als ein Trauerzug um die Plaza schlich, begleitet von der Dorfkapelle, dicht gefolgt von einer Heiligenprozession, musikalisch umrahmt von der Militärkapelle.
Nach dieser Pause ging es holpernd weiter. Die Strecke wäre zwar streng, aber landschaftlich sehr schön gewesen. Und wie so oft fuchste es uns im Nachhinein, dass wir den Bus genommen hatten. Aber immerhin konnten wir so etwas Zeit gutmachen und im Gegenzug lädierten Scharnieren etwas zusätzliche Schonfirst geben. Auf dieser Fahrt philosophierten wir wiedermal über unsere Pläne. Als wir im Nieselregen durch die Aussenquartiere unseres Ziels, einer Vierhunderttausend-Einwohner-Stadt in den Bergen, fuhren, über die Müll übersäten Abhänge blickten, durch die halb fertigen und halbverfallenen Häuserschluchten fuhren, an den armen Leuten vorbei, die in diesem Schmutz und der Unordnung einer wild wuchernden Siedlung in den ewigen Baustellen lebten und sich keinen Deut um ihre Umgebung zu kümmern schienen, fragten wir uns, ob wir wohl langsam genug von diesen „ärmlichen“ Ländern hatten und bald einmal ein Gebiet mit etwas „zivilisiertrem“ Standard, mit etwas mehr Sauberkeit und Ordnung ansteuern sollten. Auf jeden Fall beschlossen wir, etwas Gas zu geben.
Was uns, zumindest zu Anfang, relativ leicht fiel. Nicht, weil es uns nicht gefallen hätte, denn die Einheimischen, die wir im Norden des Landes antrafen, waren durchwegs angenehmer und freundlicher als ihre südlichen Landsgenossen und die Trostlosigkeit einer Grossstadt ist auf dem Land ja zum Glück nicht zu spüren. Da kann es noch so ärmlich sein. Wir hatten dann auch viele schöne Begegnungen am Wegesrand, bei der Mittagsrast oder wenn wir sonst mal anhielten. Die Stimmung war total friedlich und wir genossen es, wieder auf dem Tandem zu sitzen. Es war oft verhältnismässig flach und die Steigungen waren human. Einmal kam es uns sogar so vor, dass sich der Fluss bergauf schlängelte, so sanft schob uns der Rückenwind talaufwärts. Wir übernachteten in verschiedensten Andendörfern, eines interessanter als das Andere. Einmal verschlug es uns in ein ganz wildes Städtchen, auf dessen Plaza praktisch dreihundertfünfundsechzig Nächte im Jahr getanzt wurde, einmal in einen kleinen Bergbauort auf viertausend Metern über Meer, quasi direkt ins Bergwerk integriert in dem wir in orwellscher Manier von einer sich vor schwarzen Gewitterwolken und bedrohlichen Felswänden sich abzeichnenden russenden und rauchenden riesigen Fabrik empfangen wurden. In einer anderen Ortschaft, noch höher gelegen, musste man schauen, dass man nicht, wenn man zur Hintertür hinaustrat, gleich in die Tiefe fiel, so nahe an die Tagebaugrube wurden die Häuser gebaut. Es gab natürlich auch ganz normale Dörfchen, mit ganz normalen Plazas, Markthallen und „Pollo y Arroz“-Restaurants und teilweise sogar richtig schönen, wenn auch ungeheizten, Hostals. Allmählich wurde die Landschaft wieder bergiger. Die saftig grünen Täler und Ebenen lagen hinter uns und wir radelten durch einsame und karge Altiplano-Landschaft. Der Wind drehte öfters mal seine Richtung uns schob zum Glück meistens die Regenwolken von uns weg. Den donnernden Gewittern und dem peitschenden Eisregen sahen wir meist vom Fenster in unserem Hostal zu, denn zum Glück öffnete der Himmel normalerweise auch hier erst am späten Nachmittag seine Schleusen.
Ein anderes Thema, welches uns immerwährend begleitete, waren die Hunde. Die waren in Peru irgendwie etwas aggressiver als anderswo und schossen uns hintennach, wenn sie uns witterten. Und wenn wiedermal einer, und das kam, wie gesagt ziemlich oft vor, wild bellend und zähne fletzendend fünf Zentimeter neben unseren Waden mitlief, liess Patrizia einen ihrer Kampfschreie los und hielt die Köter mit ein paar Spritzern aus dem Velobidon in Schach. Wir überlegten uns, ob wir unseren Dazer, den Hundedressierer, nicht doch besser wieder aus den Tiefen des Anhängersacks hervorkramen sollten und somit unsere Bermerkung darüber Eingangs dieses Berichts revidieren.
Nachdem wir Pässe von bis zu viereinhalbtausend Metern überwunden hatten, ging es im Schuss s’Loch ab. Herrlich! Vom Altiplano in den Dschungel – zweieinhalbtausend Höhenmeter auf gut hundertzwanzig Kilometern. Hier unten war es endlich wieder einmal warm und selbst eine kalte Dusche empfanden wir als angenehm. Ja, es war geradezu heiss und wir hielten schon bald einmal Ausschau nach einer Glace. Als wir so im Städtchen herumspazierten, war natürlich wiedermal eine Prozession in Gange. Es ging auf Allerheiligen zu und da brachte man alle Heiligenstatuen nochmals an die frische Luft. Für einmal verfolgten wir ganz genau, wie sich der Zug langsam durch die Gassen schob. Auf den Schultern von Dutzenden von Mannen schwankte die Statue auf einer riesigen Sänfte langsam hin und her. Von oben herab immer wieder mit Blüten übergossen. Alle paar Meter machte der Tross Halt, um neue Blumenbouquets aufzuladen, kräftig die Weihrauchöfen zu schwenken oder den Litaneien der Priester zu horchen. Kaum waren die letzten Pilger durch, wurden die Girlanden abmontiert und die zimmerbodengrossen Bilder aus gefärbten Holzschnitzeln von den Strassen gefegt. Die Putzequipen waren hier beinahe noch penetranter als bei uns nach dem Fasnachtsumzug.
Wir setzten uns in ein Café an der Plaza und liessen unsere Gedanken durch Südamerika schweifen. Hier bot sich uns eine so typische Stimmung: Musik dröhnte aus allen Richtungen, Gehupe, das Geknatter der Moto-Taxis, Geschnatter und Zurufe der Leute, das unsinnige Pfeifen der Ordnungshüter. Die Parkbänke waren belegt von Einheimischen jeden Alters und jeder Couleur. Leuchtreklamen an den Häusern wurden von wild verlegten und herunterhängenden Freileitungen verdeckt, Kinder in Schuluniformen spazierten grüppchenweise umher und die, die es nicht in die Schule geschafft hatten, schwatzten einem mit monotoner Stimme Bonbons auf oder wollten einen die Flip-Flops mit schwarzer Schuhcrème polieren. Nicht zu vergessen die streunenden Hunde, die schnüffelnd ihrer Mission nachgingen. Kunterbuntes Leben also, wie es hierzulande überall stattfindet.
Einmal mehr stand uns eine Andenüberquerung bevor – die höchste, wie sich herausstellen sollte. Wir holperten los, über Stock und Stein, der Anhänger hintendrein. Als wir am Nachmittag einen Polizisten aus der Siesta weckten, meinte er, es seien bloss noch acht Kurven bis zu Passhöhe, also fragte Brö – blauäugig – gar nicht erst nach einer Unterkunft. Nach ein paar hundert weiteren Höhenmetern sahen wir dann die „acht Kurven“ in weiter Ferne und just in dem Augenblick, als ein klitzekleiner Disput über „dass-man-nach-zwei-Jahren-aber-auch-noch-immer-alle-Märchen-glaubt“ aufloderte und es zu regnen begann, fanden wir zu Brös grosser Erleichterung eine einsame Hütte, in der wir auch noch übernachten durften. Wir verbrachten den Abend und die Nacht mit zwei überaus gesprächigen jungen Frauen, die die Gelegenheit nutzten und vor allem Patrizia – von Frau zu Frau – durchlöcherten und uns mit einheimischer Musik aus dem batterieserbelnden Kassettengerät auch dann noch beglückten, als sie beide schon längst schliefen. Es war ganz nett. Wie wir uns einrichteten und am nächsten Morgen bereit machten, wollte die eine partout alles geschenkt kriegen, was wir gerade in der Hand hatten oder bediente sich gleich selber an der Sonnencrème. Ihre kleine Schwester stösselte auffällig oft an unseren Taschen vorbei – langsam klingelten die Alarmglocken. Ausnahmsweise liessen wir unser Tandem am Vorabend draussen, angekettet zwar, aber es schien uns sicher hier in dieser menschenverlassenen Gegend, eingeladen von einer Bauernfamilie. Patrizias sechster Sinn hatte zwar angeschlagen, wir wollten aber ihre Gastfreundschaft nicht überstrapazieren und den Göppel nicht in die gute Stube stellen. Allerdings hätten wir uns dadurch eine Menge Ärger ersparen können, denn als wir am nächsten Morgen losfuhren, entdeckten wir, dass sich jemand daran bedient hatte. Es fehlte das Vorderlicht und etwas aus unserer Glücksbringersammlung. Also machen wir kehrt und stellten die noch vorhanden Familienmitglieder zur Rede. Es war selbstverständlich wieder einmal so, dass sich niemand verantwortlich fühlte, nicht einmal die Eltern für ihre Kinder! Es entstand eine hitzige Diskussion, bei der wir gewisse Leute ehrlich gesagt am liebsten so richtig durchgeschüttelt hätten. Vor allem der hirnlose älteste Bruder, der sich am Morgen früh noch so wichtig als Hauschef hervorgetan hatte uns nochmals das Doppelte für die Übernachtung abknöpfen wollte, hätte um ein Haar von Patrizia eine geschmiert gekriegt, so idiotisch waren seine Bemerkungen. Die Lampe war ja für unsere Verhältnisse nicht teuer und zudem funktionierte sie nicht mal mehr richtig, aber es ging uns einfach nicht runter, dass man uns beklaut und dann so tut, als ginge einem das Ganze gar nichts an. Es war offensichtlich, dass die kleinen Jungs das Ding abgeschraubt hatten, doch die waren längst in der Schule. Wir machten einige Vorschläge zur Lösung des Problems, doch selbst das Geld, das wir für die Übernachtung und an ihrem kleinen Kiosk ausgegeben hatten, hatte sich bereits in Luft aufgelöst. Just als wir die Tochter, mit der man noch am vernünftigsten Reden konnte, soweit hatten, dass sie uns ein paar Soles als Pfand geben und sie wiederkriegen würde, wenn sie uns die Lampe nach Huaraz, wo sie wohnte, brächte, kam die älteste Schwester mit dem Corpus Delicti angewatschelt und meinte, ihre anderthalbjährige Tochter hätte in der Küche mit unserem Vorderlicht gespielt. Wohl genau so, wie mitten in der Nacht mit dem Schraubenschlüssel. Diese verlogene Bande! Zum Abschied und als wir mit der „vernünftigen“ Schwester die Wogen glätteten (es war ja grundsätzlich nett, dass wir bei ihnen übernachten durften), wollte sie tatsächlich noch Patrizias Ohrringe geschenkt kriegen...
Wir hatten also genügend Adrenalin angestaut, um die „acht Kurven“ auf die Passhöhe hochzustrampeln. Der Abzweig nach Huaraz führte auf einen Feldweg und entgegen der Logik von Alpenpässen weiter bergauf. Und wieder bergab. Und noch ein bisschen mehr bergauf. Wollte denn das nie aufhören? Immer wieder knipsten wir ein Foto „vom höchsten Punkt unserer Reise“, doch der Höhenmesser musste über viertausendneunhundert Meter über sich ergehen lassen, ehe sich das Blatt endgültig wendete. Stundenlang kurvten wir in völliger Einsamkeit um die hohen Gipfel und an Gletschern vorbei, es war schlicht unglaublich schön! Wir hätten bloss ein bisschen ab dem Weg müssen und wären mit dem Radel auf einem Fünftausender gestanden.
Der Sonne entgegen holperten wir auf losem Schotter ein golden leuchtendes Tal hinunter, an dessen Hängen riesige Kakteen wuchsen, und schlugen hinter einem Hügel unser Zelt auf. Weit weg von langen Fingern und unverschämten Fräuleins. Hier genossen wir einmal mehr die Schönheit und die Ruhe dieser surreal wirkenden Landschaft. Am nächsten Morgen holperten wir die letzten paar Kilometer auf der mühseligen Schotterpiste, bis wir in Callejón de Huaylas die Asphaltstrasse erreichten. Sanft ging es bergab, in die Schweiz Südamerikas und tatsächlich erinnerte das grüne Tal an dessen Flanken sich linkerhand die Cordilleara Negra und rechts die Cordillera Blanca erstreckte ans Vallis. Gemütlich ging's dem Fluss entlang nach Huaraz, dem Bergsteigermekka Perus. Das Panorama war einmalig, Sechstausender vor der Haustür, respektive vor dem Balkon unseres Hostals, in dem wir uns für einige Zeit niederliessen. Die Bergsteigersaison war zwar vorüber, aber wir wollten das noch nicht so recht wahrhaben. Es wäre doch wirklich zu schön, noch einen Gipfel Südamerikas zu bezwingen. Für die wirklich Grossen war der Zug zwar bereits abgefahren, aber wir waren ja nicht so wählerisch. Was das Wetter anging allerdings schon, denn bloss im Nebel herumirren wollten wir nicht. Der allmorgendliche Blick beim reichhaltigen Frühstück auf der Terrasse liess uns unser Vorhaben aber immer wieder verschieben.
Also versuchten wir’s erst Mal mit einem Pferdetrekking. Reiten kann man ja schliesslich auch mit dem Regenschutz. Dass es dann aber zwei Tage wie aus Kübeln goss, das hätte nun wirklich nicht sein müssen. Eigentlich hätten wir ja einen dreitägigen Treck geplant gehabt, aber nachdem wir am zweiten Morgen vor dem verschneiten Pass standen und unser Ariero (Eseltreiber) meinte, mit den Pferden sei dies nun zu gefährlich, war klar, dass wir umdrehten. Von der Umgebung hätte man sowieso nichts mitgekriegt, da alles wolkenverhangen war. Aber das Wetter war gar nicht mal das Übelste an der ganzen Sache. Unter „Pferdetrekking“ verstand nämlich unser Veranstalter nicht genau dasselbe wie wir. Wir hatten zwar durchgeboxt, dass unser Führer ebenfalls mitritt. Normalerweise laufe der nebenher. Das wäre in Nachhinein vielleicht auch besser gewesen so, dann wäre er auf dem Rückweg nicht auch noch vom Pferd gefallen. Vom Reiten hatte unser gute Guide nämlich keinen blassen Schimmer, sass bloss wie ein Sack im Sattel und zottelte hinterher. Den hätten wir uns guten Gewissens ersparen können. Zudem bestand der Ariero zu Anfang darauf, Patrizias Pferd an die Leine zu nehmen und erst nachdem wir klargemacht hatten, dass wir zwei echte argentinische Gauchos seien, durften wir gütigerweise die Zügel selber in die Hand nehmen. Es war also alles in allem eine rechte Verarschung und als wir dann noch mit mageren Sandwiches (trockenes Brötchen mit einer hauchdünnen Scheibe Aufschnitt) abgespeist wurden, war fertig lustig.
Das konnte es nun wirklich nicht gewesen sein und hartnäckig, wie wir sind, versuchten wir es ein paar Tage später noch einmal mit einem Ausflug hoch zu Ross. Dieses Mal organisierte uns der nette Eigentümer unseres Hostals einen Ariero und drei Pferde. Auf den Führer verzichteten wir aus verständlichen Gründen und organisierten Verpflegung und Unterkunft selber. Als wir die Pferde in Empfang nahmen, wollte es die glückliche Fügung, dass uns der erste Pferdetreiber sang- und klanglos davonlief, da er ein günstigeres Angebot mit einer längeren Tour witterte und Ambrosio für ihn einsprang. Wir verbrachten drei wunderschöne, unvergessliche Tage zu Ross und dieses Mal war alles ganz nach unserem Geschmack. Zu dritt ritten wir durch eine enge Schlucht mitten in die Berge und kletterten mit den Pferden steil hinauf über Stock und Stein. Die Landschaft war unglaublich schön. Das Tal weitete sich, als wir an den grossen Lagunen vorbeiritten und weit hinten zeichneten sich die ersten Schneegipfel ab. Wir errichteten unser Zeltlager an einem hübschen Plätzchen mit Blick auf die Gletscher und begannen zu kochen. Da wir nun selber fürs Essen verantwortlich waren, kamen wir und unser Führer auch kulinarisch nicht zu kurz. Die Vollmondnacht war sternenklar und wir schwatzten noch lange mit dem freundlichen Ambrosio über Gott und die Welt – gemütlicher, romantischer und friedlicher hätte es nicht sein können. Wir fanden es so schön, dass wir noch einen zusätzlichen Tag anhängten, um auch noch einen Blick vom berühmten Alpamayo zu erhaschen und einem knapp fünftausend Meter hohen Pass hochzureiten. Am dritten Tag machten wir uns wieder auf den Rückweg und nun waren unsere Rössli kaum mehr zu bremsen. Man musste richtig aufpassen, dass sie nicht noch bergab stolperten. Sie freuten sich wohl mehr als wir, dass unser Pferdetrekking sich dem Ende neigte.
Huaraz – Trujillo – La Tina > Die Küste
Wir blieben noch ein paar Tage und warteten auf besseres Wetter, denn das Schönwetterfenster hatte bloss während unseres Pferdeausfluges angedauert und nun präsentierten sich die Tage wieder mehrheitlich grau und mit Regen. Dann gaben wir die Hoffnung, doch noch einen Berg besteigen zu können definitiv auf und machten uns auf den Weg Richtung Küste.
Gut drei Monate verbrachten wir zwischen drei- und viereinhalbtausend Metern und stürzten nun binnen dreier Tage hinunter auf Meeresniveau. Das heisst, „stürzten“ ist nicht genau die richtige Beschreibung. Eher im Kriechgang ging’s gegen den Wind bergab. Zudem war die Strasse im Cañon del Pato so ziemlich das Übelste, was uns bis jetzt unter die Räder kam. Der abenteuerliche Weg durch diese Schlucht war zwar wirklich sehr spektakulär und dank den oben erwähnten Gründen erlebten wir jeden Meter intensiv. Die Holperpartie war eine echte Herausforderung ans Material. Nicht nur der Anhänger kriegte den einen oder anderen Riss, auch die Scheuertourenstatistik der Packtaschen wurde ausgereizt. Die Bananen vorne im Gemüsekorb wurden in der Schale selbst zu Jus verarbeitet und die Brötchen wurden mir nichts dir nichts zu Paniermehl verarbeitet. Ein paar Tage länger und Brös Oberarme hätten Schwarzenegger Noldi Paroli bieten können. Mehr als einmal verloren wir das Gleichgewicht, konnten uns aber immer souverän aus der Affäre ziehen. Besser als ein Lastwagen, der uns überholte und dem ein paar Meter weiter die Lenkung brach und durch glückliche Fügung, respektive einen grossen Felsblock ein freier Fall in die tiefe Schlucht erspart blieb. Die Fahrzeuginsassen sahen ziemlich bleich aus und wieder einmal wurde uns bewusst, wie viel Glück wir jedes Mal haben, wenn wir mit dem Bus reisen. Mit dem Velo mit ein paar Stundenkilometer durch den knietiefen Schotter pflügend braucht man sich um derlei Materialschäden keine Sorgen zu machen. Und dass unser Anhänger einmal mehr entzweibrach (nachdem wir ihn erst noch in Huaraz an anderer Stelle schweissen liessen), wirkte sich nicht gross auf die Sicherheit aus.
Was man von den Tunnels (neununddreissig an der Zahl) nicht unbedingt behaupten konnte. Selbstredend, dass sie nicht beleuchtet waren und unsere Stirnlampen den Naturstein-Schlagloch-Belag nicht ganz auszuleuchten vermochten. Aber wie gesagt, wenn man mit einer Handvoll Stundenkilometern unterwegs ist, kann man auch gut einmal blindlings nach Gefühl fahren. Es wechselten sich also Sonnenbrillen- mit Stirnlampenpassagen ab und eigentlich waren wir um den Gegenwind froh, denn es wurde richtig heiss. Action gab es jeweils auf den Brücken, denn da wurde aus dem Gegen- Seitenwind und da hierzulande Abschrankungen und Geländer als überflüssigen Luxus angesehen werden, wurde das Queren des Flusses fast schon zum Hochseilakt.
Das erste Mal seit ewiger Zeit kochten wir unser Nachtessen vor dem Zelt barfuss und im Tischi und selbst die Schlafsäcke waren für einmal eher lästig heiss als kuschelig warm. Ein untrügliches Zeichen, dass wir uns langsam der Küste näherten. Ein anderes waren die bunten Felder, die sich über die immer weiter werdenden Ebenen erstreckten. Zwar ist die Küstenregion nicht gerade von Regen gesegnet, aber dank ausgeklügelten Bewässerungstechniken entwachsen dem sandigen Boden mitten in der Wüste Gewächse aller Art. Dies stach vor allem im weiteren Verlauf der Reise ins Auge, wo wir der Küste entlang auf der Panamericana nach Norden fuhren. Meistens durch knochentrockene Wüste und ab und zu durch riesige etwas deplatzierte Zuckerrohrfelder.
Halb nackt kamen wir uns vor, wie wir so im Tischi und kurzen Hosen den Sanddünen entlang radelten. Die äusserst steilen Steigungen trieben uns den Schweiss aus allen Poren – ach wie schön war’s doch in den Bergen! Nicht wegen der Hitze, aber vor allem wegen dem nicht vorhandenen Verkehr. Dieser konnte, trotz aufmunterndem Zurufen der Camionneure und freundlichen Hupen praktisch aller Verkehrsteilnehmer, ziemlich ätzend sein. Wir vermissten jetzt schon die einsamen Bergstrassen und fragten uns ernsthaft, ob uns das hier wirklich gefällt. Bis Trujillo wollten wir aber zumindest radeln und dann weiter schauen. Beim Einfahren in die Stadt durften wir einem Taxi folgen und beim Einbiegen in die Strasse, in der die Casa de Cyclistas steht, rief uns eine Frau nach „Hier werdet ihr mit Sicherheit ausgeraubt, wenn ihr einbiegt!“. Herzlich willkommen!
Das Willkommen in der Casa de Cyclistas war dann aber wirklich herzlich. Araceli begrüsste uns wie lange vermisste Freunde und als seien vor uns nicht bereits siebenhundert andere Radler hier abgestiegen. Die Casa de Cyclistas, eine Institution, die vor etwa fünfzehn Jahren vom Radbegeisterten Lucho ins Leben gerufen wurde, dient seither als Treffpunkt und Herberge für Südamerikaradler. Kaum jemand, der von Nord nach Süd oder umgekehrt unterwegs ist, kommt daran vorbei. Werkzeuge standen zur Verfügung, ein Dach über dem Kopf und Platz, um den Veloservice auszuführen. Zwischenzeitlich hauten wir aber für ein paar Tage ab ans Meer.
Obwohl oder gerade weil es hier so richtig schön warm war, zogen wir uns hier beide eine richtig starke Erkältung zu. War wohl zu viel für unsere Körper nach monatelangem Dauerheizen auf einmal die Kühlaggregate anzufahren, Baden gingen wir nicht, denn der bedeckte Himmel und das nicht ganz so zimmerwarme Meer luden nicht dazu ein. Alle anderen Schönheiten des Strandlebens liessen wir uns schon angedeihen. Ein wenig von Beizchen zu Beizchen ziehen, ein Bierchen trinken und den Fischern zuschauen, wie sie mit ihrem Schilfbooten in der Brandung surften und ihren Fang am Ufer feilboten. Direkt von dort kam er abends auf unsere Teller – eine echte Gaumenfreude. An Ceviche, lecker zubereiteten rohen Fisch, konnten wir uns kaum satt essen. Man konnte bis Mitternacht gemütlich draussen sitzen und dem Meer lauschen.
Auf dem Rückweg nach Tujillo machten wir in Chan Chan Halt, der grössten Adobestadt der Welt. Was der Regen in Zentraleuropa binnen Jahresfrist wegwaschen würde, hat hier an der trockenen Pazifikküste Perus Jahrhunderte überdauert. Filigrane Ornamente an den Wänden waren teilweise ebeso gut erhalten wie die hohen und meterdicken Mauern aus Lehmziegeln. Wir hatten Glück und wurden entgegen Belehrungen aus den Reiseführern nicht überfallen.
Mit allem Hab und Gut quartierten wir uns also nochmals für ein paar Tage bei Lucho und Familie ein. Wir widmeten diese abermals einer Material-Aufpepp-Session und plauderten mit anderen Radlern aus England Kanada und Japan. Sogar für unseren Geschmack kam aber das Socializen etwas zu kurz. Panamerikanaradler sind wohl nicht von ungefähr oftmals alleine unterwegs. Justin aus England teilte immerhin Brös Vorliebe für Kaffee, so stand die original italienische Espressokanne praktisch pausenlos auf dem Herd. Aracelis Nebenverdienst war Tortenbacken und wir nutzten die Gelegenheit, uns mit ihren leckeren Kompositionen wieder ein paar Reserven anzufuttern. Der letzte Abend im Casa de Cyclistas verlief dann wieder allzu typisch: die Hausmutter anerbot sich, abends für alle zu kochen, wir gaben ihr das Geld, am Abend war nichts eingekauft, da beschlossen wir, die Sache selbst in die Hand zu nehmen, gingen auf den Markt einkaufen und kochten zusammen mit Justin ein leckeres Abendessen. Einjeder trudelte nach Belieben ein, ass etwas oder auch nicht und verschwand wieder. So waren wir schlussendlich, wie eigentlich immer, bloss zu dritt. Obwohl uns gewisse Dinge hier etwas sonderbar vorkamen, und wir ein offenes Haus der Velöler definitiv etwas anders führen würden, hatten wir eine angenehme Zeit dort. Im Gegensatz zu den vielen enthusiastischen Eintragungen im Gästebuch, fanden wir bis zum Schluss nicht heraus, was hier so toll sein sollte. Aber auch wir fanden selbstredend nur löbliche Worte für einen Eintrag, denn rückblickend hatte es ja auch wirklich seine guten Seiten. Vor allem Lucho, der passionierte Velofahrer, der quasi sein Dasein dem Rad gewidmet hat und für seine Gäste wohl sein letztes Hemd hergeben würde. Und ein guter Einblick ins LBT (Low Budget Traveller = Billigstreisende)-Leben und einer ganz normalen peruanischen Familie war es allemal.
Am nächsten Morgen begleitete uns Lucho zur Busstation. Von der Panamericana hatten wir bereits genug und wir beschlossen, die restlichen Kilometer bis zur Grenze nach Ecuador abzukürzen. Für die ersten fünfzig Kilometer war uns sowieso dringendst ans Herz gelgt worden, den Bus zu nehmen, um nicht, wie viele Radler vor uns auf dieser Strecke vom Rad gezerrt und ausgeraubt zu werden. Justin konnte dies leider mit einigen Schrammen bestätigen.
Peru hinterliess uns, wie man diesen Zeilen unschwer entnehmen kann, einen recht zwiespältigen Eindruck. Es hatte viele schöne Seiten, auch nette Bekanntschaften konnten wir knüpfen, aber ungewöhnlich viele Negatives, Unfreundliches und Unangenehmes ereilte uns hier. Vielleicht haben die paar Steine zu Anfang aber auch nur einen Schmetterlingseffekt nach sich gezogen. Wir hatten Leute angetroffen, für die dieses Land zu den absoluten Highlights zählte und so ist es eben auch immer wieder interessant, wie ganz persönlich die Eindrücke eines Gebietes sind, wie viel vom Zufall abhängt, den Begegnungen, der eigenen Verfassung, dem Wetter, der Stimmung im Land, aber auch seiner ganz eigenen. So soll es ja auch sein, schliesslich sind wir nicht umsonst so genannte Individualreisende. Wär ja noch schöner, wenn jeder das gleiche erleben würde und das gleiche zu erzählen hätte! So gesehen, nehmt nicht immer alles für bare Münze, was wir den lieben langen Tag so dahninschreiben. Vieles lassen wir weg, manches übertreiben wir, einiges beschönigen wir und das eine oder andere ziehen wir sogar voller Wonne durch den Dreck. Ganz nach dem Motto: Dieser Artikel deckt sich haargenau mit der Ansicht der Redaktion – oder so ähnlich ;-)