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Argentinien und Chile, zweiter TeilDer Norden

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23. Mai 2005 - 4. August 2005
Reisetag Nr. 611 - 684

Santiago – La SerenaRegen, Smog und Sternenhimmel

Die Niederschläge, die für gestern angemeldet waren, trafen diese Nacht ein und es stürmte wie verrückt. Wir genossen das Prasseln des Regens vom lauschigen Bett aus. Das Frühstück wurde uns auf’s Zimmer gebracht, die Heizung auf Rollen auch. Das trübe Wetter zog sich über die ganze Zeit dahin, die wir in Chiles Hauptstadt, Santiago, weilten. Vielleicht haute sie uns deswegen nicht gerade aus den Socken. Das Stadtzentrum war zwar schön, die Plaza lud mit Unmengen von Parkbänken zum Verweilen ein und doch fehlte ihr das südamerikanische Flair. Alles kam geordnet, sauber und gepflegt daher, vor allem die U-Bahn. Dort hätte man vom Fussboden essen können. Irgendwie braucht eine Metro doch diese langen, düsteren und beklemmenden Gänge, den Geruch nach allen möglichen Körperausscheidungen, versprayte Wände und den kumulierten Dreck vergangener Jahrzehnte. Vor allem Brö vermisste die Trottoirs von Buenos Aires, auf denen man kaum einen Meter gehen konnte, ohne dass irgendwo der Belag fehlte, man über zerborstene Bodenplatten stolperte oder um Hundedreck zirkulieren musste. Langsam kriegten wir Bammel, wie wir uns in der sauber polierten und perfekten Schweiz dereinst wieder zurechtfinden sollen. Flickwerk, Improvisiertes und Rostiges hat einfach mehr Charakter und strahlt mehr Leben aus, als blanke Wände, ebene Strassen und saubere Schaufenster.

Als Schweizer, wo Armut (wie immer man diesen Begriff auch definieren mag – wir würden uns wohl mit heimischen Sozialarbeitern nicht ganz einig) allenfalls hinter verschlossenen Türen stattfinden mag, gewöhnt man sich an bettelnde Menschen wohl nie. Sie gehören zum Strassenbild in allzu vielen Städten auf der Welt und zu schnell geht man an ihnen vorbei, versucht, ihrem fragenden und bittenden Blick auszuweichen oder man kramt ab und zu eine Münze aus dem Sack. Wo das staatliche Auffangnetz zu grosse Löcher hat, oder quasi inexistent ist, ist Betteln oftmals die einzige Alternative zum Verhungern. Man ist sich als Reisender aus dem reichen Europa zu wenig bewusst, dass das Spenden einer Münze die fehlende Rentenversicherung ersetzt und ein Teil der sozialen Verpflichtung ist. Wir müssen uns häufig selbst an der Nase nehmen, um bettelnden Menschen unter diesem Gesichtspunkt zu begegnen, denn es ist die Not, die diese Menschen auf die Strasse treibt und nicht die Aussicht auf einfach verdientes Geld. Was also in manch herausgeputzter Stadt dazugehört, „vermissten“ wir in Chiles Metropole, respektive dem ganzen Lande. Einmal abgesehen von überaus lästigen und aufdringlichen Zigeunerinnen in langen, schmutzigen Röcken mit noch schmutzigeren Kindern oder Babys an der Brust. Bei ihnen fragten wir uns doch ein wenig, ob sie wirklich von der Not getrieben waren oder von der Aussicht auf zu leicht verdientes Geld, wenn man zusehen konnte, wie sie grosse Noten für Sinnlosigkeiten hinblätterten oder sich kurz über Mittag beim Coiffeur die Haare färben liessen. Die Frauen machten sich in den Gassen breit, hinterliessen auf den Strassen ihren Abfall und bei uns zwiespältige Gefühle.

Das Land schien im Aufbruch und ob es sich eher nach den USA hin oder nach Europa bewegte, konnten wir nicht ganz ausmachen. Es war aber deutlich amerikanischer, als Argentinien und auffallend waren die vielen Fastfood-Ketten, die sich an bevorzugter Lage niedergelassen hatten und im Gegensatz dazu in Argentinien durch praktisch gänzliche Abwesenheit glänzten. Was aber weit schwerer wog, war Chiles Vorliebe für Instantkaffee. Stand im Nachbarsland auch in der kleinsten Beiz eine richtig tolle Kaffeemaschine italienischer Fabrikation, wurde einem hier schier ausnahmslos eine Dose mit Nescafé auf den Tisch gestellt. In den besseren Etablissements nahmen sie sich immerhin die Mühe, das Pulver in ein Chromstahltöpfchen umzuleeren. Man hatte uns ja bereits im Vorfeld gewarnt, dass Chile ein kulinarischer Tiefflug werden würde. Zugutehalten müssen wir der Stadt, dass sie mit einem auffallend grossen Kontingent an chinesischen Restaurants aufwarten konnte. Eine willkommene Abwechslung.

Die Chilenen scheinen verrückt nach Fernsehen, speziell nach Seifenopern. Das Programm besteht praktisch ausschliesslich aus diesen hirnrissigen Serien, voll Freud und Leid, als ob das Leben nicht bereits voll davon wäre. Man fragt sich wirklich, wieso sich so viele Leute in diese Scheinwelt flüchten und mehrere Stunden ihres täglichen Lebens quasi zum Fenster raus schmeissen. In jedem Restaurant, in jedem Bus, in jeder Wartehalle, jedem Wartezimmer, ja, in jedem Kiosk, auf der Post, bei der Polizei, wohl auch noch im Parlament lief die Flimmerkiste. Dass die öffentlichen Plätze nicht auch noch mit Lindenstrasse-Derivaten kontaminiert wurden, scheiterte wohl bloss daran, dass Grossprojektoren glücklicherweise zu teuer schienen. Findige Bürgermeister liessen ihre Plazas im Gegenzug dafür mit grossen Lautsprechern beschallen, damit es auch bloss nie still um einem war. Sonst hätte man ja noch die Zeit gehabt, die Ruhe zu geniessen und sich ein bisschen mit seinen eigenen Gedanken zu beschäftigen. Man wähnte sich schon fast ein wenig in einer staatlichen Konspiration, um den Mann von der Strasse still zu halten. Nach dem Motto: „Gebt dem Volk Spiele.“ Es gab aber, der Ehrlichkeit halber, auch Plazas, die ihrem Namen und vor allem ihrem Ursprung, als Mitte des Dorfes oder der Stadt, gerecht wurden. Dort trafen sich coole Kids, die die Girls mit Brakedance-Einlagen zu imponieren suchten, Mamis mit ihren Kindern, die auf gemieteten Elektrotöffs (der grosse Renner) ihre Runden um den Brunnen drehten, kichernde Schulmädchen, die Zettelchen austauschten, alte Männer, die sich um ein Schachspiel scharten, Eis-, Popcorn- oder Kaffeeverkäufer, die ihre Wagen durch den Kies schoben und zwei Reisende, die diesem Treiben stundenlang zuschauen konnten. Die Plazas waren das, was uns wohl am meisten imponierte in Chile. Meistens sehr schön angelegt, oftmals unverhältnismässig gross für die kleinen Dörfchen und mit so vielen Bänken bestückt, dass sich die gesamte Bevölkerung versammeln konnte.

Obwohl wir Santiago nicht ganz so ausgiebig erkundeten, hatten wir nach einer Weile einen guten Einblick in die Stadt: architektonisch ansprechend, sauber und geschäftig. Gleich neben unserem Hotel ragte der Cerro Santa Lucia empor, auf welchem man einen schönen Ausblick auf die Stadt und die verschneite Andenkette, an deren Fuss sie gebaut war, gehabt hätte, wäre es nicht so unglaublich dunstig, trüb und versmogt gewesen. Es war aber trotzdem schön, im von Sicherheitsleuten beschützten Park zu spazieren und auf den Aussichtspunkt zu klettern. Am letzten Tag in Santiago zügelten wir für einen läppischen Aufpreis von ein paar Franken in ein Luxuszimmer mit Sprudelwanne. Wir stürzten uns natürlich sofort ins blubbernde Badevergnügen und liessen die Jacuzzi im Familienformat abends gleich nochmals voll laufen. Man gönnt sich ja sonst nichts und schliesslich hatten wir im Verlauf der letzten Tage festgestellt, dass unser superschönes Hotel mitten im Stadtzentrum nicht mal teurer war, als die Hostels in den Aussenquartieren, wo einem die Rucksacktouristen in Gemeinschaftsbad und -küche voll laberten.

Für die erste Etappe gegen Norden wählten wir den Bus, da sich der Weg bis nach La Serena als Autobahn präsentierte. Und darauf hatten wir keine Lust. Patrizia glättete die Wogen, die nach Brös hitziger Diskussion mit den Angestellten der Busgesellschaft über die Grösse von Gepäckabteilen in Reisecars und irgendwelcher Tandems entstanden. Machos! Da braucht es eben ab und zu den sedativen Einfluss einer Venus, wenn zwei Marse aufeinander prallen und sich in die Hörner geraten. Ansonsten waren die Chilenen eigentlich ganz nette und unterhaltsame Zeitgenossen, wenn man sich erst einmal daran gewöhnt hatte, dass sie die Hälfte der Silben verschluckten. Wir mussten unser Castellano porteño mit der Zeit etwas umbiegen, um nicht als Exoten zu gelten.

Die fünfhundert Kilometer lange Fahrt im Bus bestätigte uns, dass wir die richtige Entscheidung getroffen hatten, denn der kalte Pazifik hatte die unangenehme Eigenschaft, die Küste ausgiebig mit Nebel zu versorgen, der sich, wenn überhaupt, erst am Nachmittag auflöste. Und hier, in dieser Suppe, sollen die grössten Teleskope der Welt aufgestellt sein? Man versicherte uns, dass etwas weiter im Landesinnern die Nächte praktisch durchwegs klar seien. An durchschnittlich höchstens dreissig, an gewissen Orten sogar bloss an fünf Tagen im Jahr sei der Himmel bedeckt. Eigentlich fragt man sich schon, was man denn in der Sternwarte Hubelmatt (im regenverwöhnten Luzern – Anm. d. Red.) sehen kann. Klar, dass wir uns hier ein Observatorium ansehen wollten, wo nicht bloss die von der Leuchtenstadt illuminierte Wolkendecke von unten bestaunt werden konnte. Die richtig grossen Teleskope mit Spiegeln von über acht Metern, respektive über dreissig Metern, wenn sie parallel geschalten werden, und klarere Bilder aus dem Weltall liefern, als das berühmte, mittlerweile nicht mehr ganz so kurzsichtige Weltraumteleskop Hubble, konnte man leider bloss tagsüber und nach monatelanger Vorreservation besuchen. Zudem lagen sie offensichtlicherweise so weit draussen im Niemandsland, dass man ein Auto hätte mieten müssen, um dorthin zu gelangen. Also entschieden wir uns für eine Tour zu einer Sternwarte mit etwas bescheideneren Ausmassen, die man dafür auch Nachts besuchen konnte. Ehrlich gesagt wäre es ja schon ein bisschen beschränkt, würde man ein Observatorium bei Tageslicht besuchen. Obwohl, die technischen Einrichtungen wären zweifelsohne imposant gewesen. Aber bestimmt nicht so imposant, wie das Sternenfirmament, das sich uns in Mammaluca bot. Der Nachthimmel, weit weg von Siedlungen, wo weit und breit kein künstliches Licht das Auge trübt, ist ja immer ein Ereignis, da braucht man nichts von Astronomie zu verstehen. Wenn einem aber noch Erklärungen zum Himmelszelt, zu Himmelskörpern und -erscheinungen geliefert werden, wissen rechte und linke Hirnhälfte gar nicht mehr so genau, welche jetzt das Unfassbare mehr admirieren soll. Es war sehr eindrücklich, auch mit Linsen von bloss gut vierzig Zentimeter Durchmesser.

Zum Glück war die vorgängige Besichtigung der Piscofabrik ebenso rauschneutral verlaufen, wie die damalige Führung durch Mendozas Bodegas, sonst wären aus den oben erwähnten Fixsternen plötzlich wilde Pulsare geworden. Pisco, ein Schnaps aus Weintrauben und das eigentliche Nationalgetränk Chiles, schmeckt wie Grappa und ist es im Grunde ja auch. Bloss, dass er hierzulande meist mit Zitronensaft, viel Zucker und manchmal sogar noch einem Eiweiss gepanscht wird. Das nennt sich dann „Pisco sour“, schmeckt aber eigentlich gar nicht schlecht. Die Führung durch die Fabrik war sehr kurz und liess nichts Gutes für die anschliessende Degustation erahnen. Wir waren positiv überrascht, als die Dame ein Tablett mit fünf verschieden Piscosorten auftischte, weniger, als sie es wieder versorgte, nachdem wir uns für einen der Plastikbecher entschieden hatten. Na gut, musste die gute Frau das Tablett eben fünf mal nach vorne grübeln.

La Serena – AntofagastaFranzösisch pilotiert durch die Atacama

Im Hostal mit integrierter Schuhmacherwerkstatt war es überaus gemütlich. Wir plauderten viel und lange mit den Besitzern und ein paar anderen Touris. Es fiel uns auf, dass verhältnismässig viele Rucksacktouris, zumindest die, die etwas länger unterwegs waren, recht gut Spanisch konnten. Da unser Französisch eingerostet (wir trafen ungewöhnlich viele Francokanadier, Franzosen und Welsche) und Englisch hierzulande für uns nicht unbedingt die erste Wahl war, waren wir froh, dass wir für Unterhaltungen in Castellano mittlerweile so gut gewappnet waren. Wir konnten einigermassen fliessend jede Art von Diskussion führen und waren schon ein bisschen Stolz darauf. Wir, und vor allem auch die Einheimischen, freuten sich immer, wenn wir frisch von der Leber weg plaudern konnten. Was verpasst man nicht alles, wenn man ein Land bereist und die Sprache nicht beherrscht. Wir fragten uns, wie es wohl in Asien werden wird, wenn unser Vorrat an Idiomen ausgeschossen ist. Immerzu Lächeln ist zwar nett, aber auch nicht gerade die Art von kulturellem Austausch, die man sich beim Reisen wünscht.

Vorderhand waren wir ja aber noch in Lateinamerika und da wir noch was sehen wollten davon, machten wir uns auf den Weg. Dieses Mal mit den Tandemsätteln und keinen Semi-Cama-Sitzen unter den Hintern. Mit unserem neuen chilenischen Reiseführer Marke „TurisTel“ konnten wir uns ein sehr gutes Bild machen, über die Strecke nach Norden und strampelten auf der berühmten Panamericana, auf der sich erstaunlich wenig Verkehr tummelte. Anfangs ging’s der Küste entlang, immer mal bergauf und -ab. Links das Meer und rechter Hand die Küstenkordillere. Unter viel Schweiss lernten wir ein neues Wort kennen: „Cuesta“. Von denen hatten wir noch einige zu überwinden, denn die Strasse schickte sich an, statt den einfachen Weg der Küste entlang zu nehmen, uns über die Bergrücken im Landesinnern zu lotsen. So standen dann jeweils abends immer weit über tausend Höhenmeter auf dem Tacho. Glücklicherweise trauten aber die Strassenbauingenieure den Lastwagen keine Steigungen von über fünf Prozent zu, sodass die TurisTel-Beschreibung „suave“ wörtlich genommen werden konnte. Die Umgebung war reichlich trocken und je weiter wir nach Norden fuhren, desto spärlicher wurde die Vegetation. Ab und zu, so alle fünfzig Kilometer, hatte es Posadas, Truckstopps, in denen man Bauch und Wasserflaschen füllen konnte. Und durch glückliche Fügung konnten wir so zweimal sogar in richtigen Betten schlafen. Der Qualität der Zimmer wegen fühlten wir uns allerdings zurückversetzt nach Afrika – bloss unsere liebgewordenen Kakerlaken fehlten und das Moskitonetz brauchten wir auch nicht aufzuspannen.

In Vallenar, in einem fruchtbaren Tal gelegen, erreichten wir wieder ein Städtchen, ein schönes dazu. Die Unterkunft war makellos, mit einem sonnigen Patio und sogar eine Waschmaschine hatte sie zu bieten. Während Brö unser Tandem mit einem Satz neuer Ketten und ein paar Streicheleinheiten verwöhnte, machte sich Patrizia an die Hausarbeiten. Es war richtig gemütlich. Es hat schon was, wenn man frühzeitig an einem Ort ankommt – Etappen von fünfzig Kilometern sollten wir zum Regelfall machen. Wir schauten uns im Städtchen um und am nächsten Tag machten wir einen Ausflug ins Tal. Die Strasse schlängelte sich hinauf und an einem riesigen Stausee entlang. In Bergdorf Alto del Carmen liessen wir uns erneut eine Piscofabrik zeigen. Dass der Betrieb vor vier Jahren eingestellt wurde, erklärte uns der Führer allerdings erst beim Rundgang durch zerlegte Maschinen, aber immer noch herrlich duftende Eichenfässer. So, das war jetzt für die kommende Zeit bestimmt die letzte Führung durch Alkohol produzierende Fabriken, die wir machten!

Im Grunde waren die Besichtigungen ja jeweils ganz amüsant und man konnte sie mit einem Augenzwinkern abtun. Was uns aber mehr Sorgen machte, war, dass wir nicht so recht vom Fleck kamen. Und irgendwie waren wir unentschlossen, ja, man könnte sagen, etwas unmotiviert. Eigentlich sprach nichts gegen die Strecke und wir wollten ja hier durchradeln. Aber irgendwie fehlte das gewisse Etwas. Dem geneigten Leser ist es bestimmt nicht entgangen, dass Chile nicht unbedingt unser Favoritenland ist. War es das? Hatten wir eine „Chile-Allergie“? Vielleicht fehlten uns die Menschen am Strassenrand – aber die hatte es ja in Argentinen bereits auch nicht mehr und dort war es ein Traum, Rad zu fahren. Vermissten wir das farbige Afrika? Betrug die Inkubationszeit des berühmten Afrika-Virus etwas länger? Oder war es, weil wir bereits so viel Zeit hier in Südamerika „verlöffelt“ haben – und eben diese uns nun davonzulaufen schien? Reisemüde, das waren wir uns einig, waren wir noch nicht, eher darauf erpicht, etwas Neues zu sehen. Hatten wir Torschlusspanik? War es die Angst, dass das Geld schneller als die Lust am Reisen ausgehen könnte? Eines war uns klar: Wir mussten was unternehmen, und zwar bald.

Wir machten uns auf den Weg und liessen die grüne Oase hinter uns. Als wir am Wegesrand unsere Brote verdrückten, gesellte sich ein kleiner Hund zu uns und legte sich in den Schatten des Anhängers. Hier draussen hatte es auch nichts, was ihm sonst vor der brütenden Sonne schützte. In unseren Trinkflaschen sah er eher eine Waffe als Tranksamen und Rüebli mochte er auch nicht, ein paar kleine Streicheleinheiten liess er sich aber gerne angedeihen. Bei der Posada „Los Pajaritos“ durften wir unser Zelt aufstellen. Als wir darin unsere Siesta hielten, klopfte es an die „Tür“ und siehe da, wer vor uns stand? Ein Velofahrer. Guillaume aus Frankreich und seit ein paar Monaten im Süden unterwegs, hatte von den Lastwagenfahrern mitbekommen, dass ein Tandem in dieselbe Richtung unterwegs sei und hatte alles gegeben, um uns einzuholen. Das war ja eine Überraschung und beim gemeinsamen Nachtessen plauderten wir über Gott, die Welt und Südamerika – auf Castellano natürlich. Als wir nach draussen kamen, war es dunkel und es herrschte dichter Nebel. Wir verzogen uns in die Schlaftüten und freuten uns auf die bevorstehenden gemeinsamen Radeltage.

Die Frauen von der Posada schauten gut zu uns und es war amüsant, wie sie uns – wenn die Kolleginnen gerade nicht zuhörten – ihre Geheimniskrämereien anvertrauten. Sie arbeiten und leben hier in dieser menschenverlassenen Gegend zusammen und doch hatten sie ihre kleineren und grösseren Geheimnisse voneinander. Das haben wir ja schliesslich auch. Wir verabschiedeten uns herzlich von ihnen, dankten für die Gastfreundschaft und kriegten zum Schluss von Maria Nummer zwei einen Sack mit Früchten und Gemüse als Wegzehrung – heimlich, versteht sich. Wir machten uns zu dritt auf den Weg und fuhren gemächlich dahin. Unser französische Freund, der uns gestern noch von seinen Heldentaten berichtet hatte, mochte nicht so recht und hatte sichtlich Mühe, mit unserem Tempo mitzuhalten. So schlimm stand’s also noch nicht um uns. Wir genossen es, mit einem Gspanen unterwegs zu sein, machten viele Pausen und plauderten während dem Radeln. Die zwei Steigungen, die uns vorausgesagt wurden, trafen ein und auch die Abfahrt nach Copiapó. Dass wir nun zu dritt unterwegs waren, wirkte sich auch auf die Startzeit aus: Am nächsten Morgen brachen wir den Rekord mit elf Uhr. Das nennt man Ferien! Guillaume stöhnte und schnaubte hinter uns her – wir hatten uns bereits daran gewöhnt. Also mit ihm hätte die französische Armee keinen Krieg gewonnen. Die Reise ging flott voran, obwohl seit drei Tagen Brös Knie mehr und mehr schmerzte. Durch ein weites, grünes Tal fuhren wir Richtung Küste, bis die Strasse nach rechts abbog. Dann war es auf einen Schlag vorbei mit der Vegetation. Nichts als Sand und Stein. Kein Grashalm wuchs mehr. Geregnet hatte es hier an der Küste seit anderthalb Jahren nicht mehr, meinte ein Herr, in dessen Hostal wir übernachteten. Unglaublich: Da hat es diesen riesigen Ozean da draussen und hier ist es jahrelang staubtrocken. Uns war es ganz recht so und in dieser Jahreszeit waren die Temperaturen mehr als erträglich, ja, manchmal sogar fast schon ein wenig kühl.

In Caldera legten wir zwei Ruhetage ein, um Brös Knie, das nun geschwollen und heiss war, ein bisschen Erholung und eine Voltaren-Kur zu gönnen. Es war nett hier, in diesem kleinen Küstenstädtchen. Wir gingen öfters zum Hafen und schauten den Fischern beim Einbringen ihres Fanges zu. Riesige Schwertfische zogen sie mit vereinten Kräften aus den Bäuchen ihrer Kutter. Im Hafenbecken tummelten sich Pelikane und sogar Seehunde. In den kleinen Open-Air-Restaurants konnte man die Meeresfrüchte und Fische geniessen, die ein paar Augenblicke zuvor noch im Ozean geschwommen waren. Äusserst lecker!

In unseren Zimmer hatten wir beste Unterhaltung, denn des Nachts tappelten kleine Mäusefüsschen über das alte Linoleum und im Zimmer nebenan, getrennt durch eine Wand aus Karton, nahm ein älteres Paar an einer Viagra-Studie teil. Da waren die Tage schon gemütlicher. Etwas spazieren, im Patio käfele, schreiben, lesen, Reiseführer studieren. In Bolivien hatte sich die Lage dermassen zugespitzt, dass das Land am Rande eines Bürgerkrieges stand. Die Grenzen waren zu, das aufgebrachte Volk blockierte die Strassen, die Lebensmittel wurden knapp und in den Städten spielten sich teils gewalttätige Grosskundgebungen ab. Hoffentlich beruhigt sich die Lage, bis wir Bolivien erreichen, sonst müssen wir unsere Reise definitiv anders planen. Dies und Brös Knie trugen natürlich nicht gerade dazu bei, dass die Zweifel am momentanen Verlauf der Reise zerstreut wurden. Immerhin hatten wir jetzt aber die Möglichkeit, den Weg mit einem sympathischen Gefährten zu teilen.

Wir probierten es nochmals mit dem Knie, aber bereits nach wenigen Kilometern zeichnete sich ab, dass wohl eine längere Pause vonnöten war, um das wieder verheilen zu lassen. Schöner Schmarren. Die Strecke allerdings liess die Schmerzen vergessen, denn es war Wüste pur – genau nach unserem Geschmack. Zuerst Sand, dann Stein und gegen den Schluss fuhren wir durch schroffe Felsen, immer mehr oder weniger dem Meer entlang. Beinahe wären wir von einem geistesgestörten Lastwagenfahrer über den Haufen gefahren worden. Wie wir nämlich friedlich dahinradelten, überholte uns ein Auto, ein Lastwagen kam entgegen und der Sattelschlepperfahrer, der in affenartigem Zahn hinter dem uns überholenden Auto herfuhr, schwenkte urplötzlich aus und fuhr im Schotter rechts an uns vorbei. Wir konnten gerade noch nach links ausschwenken – zum Glück bogen wir nicht reflexartig nach rechts ab und zum Glück gab es rechts überhaupt die Möglichkeit zum Überholen, denn vor und nach dieser Stelle hatte es hohe Wälle. Erinnerungen an Ägypten wurden wach. Scheint irgendein Wüstenphänomen zu sein, Tourenradler aus heiterem Himmel rechts zu überholen. Der Lastwagen schlidderte wieder auf den Asphalt und machte sich aus dem Staub. Besser für ihn...

Am Abend mussten wir uns eingestehen, dass wir Brö’s Gesundheit zuliebe vorderhand nicht mehr weiterfahren konnten. Ehrlich, jetzt waren wir extra wegen der Atacama nach Chile gekommen und just an der Schwelle zu dieser faszinierenden Wüste wurde uns wieder ein Knüppel zwischen die Speichen geworfen. Das war nun wirklich nicht fair! In einer kurzen Nacht diskutierten wir mehrere Möglichkeiten weiterzureisen, doch erst beim Morgenessen rückte Patrizia mit der spontanen Idee heraus, sie könne doch mit Guillaume auf dem Tandem die gut vierhundert Kilometer durch die trockenste Wüste der Welt fahren. Er war für diese Idee schnell zu begeistern und eine kurze Testfahrt ohne Gepäck zeigte, dass Patrizia mit einem französischen Piloten die Weiterreise antreten konnte. Wir packten um und schnallten die Taschen ans Tandem. Schwankend nahm das Paar Abschied von Brö und machte sich aus dem Staub.

Irgendwann klappte es besser mit dem gemeinsamen Rhythmus und selbst das Gänge wechseln funktionierte etwas reibungsloser. Nach zwanzig Kilometern waren allerdings beide nicht mehr so von der Idee überzeugt, doch nach gewissen Modifikationen an Guillaumes Sitzposition wurde mutig die Weiterfahrt unter die Räder genommen. Der Franzose hatte nicht dieselbe Präferenz, was die Wahl der Gänge anging und meinte, mit dem Tandem sei es ja schon unglaublich streng. Tja, jahrelange Tandem-Strampelerfahrung lässt sich nicht im Eiltempo wettmachen. Ausser, dass man nicht so recht vorwärts kam, war das Radeln in dieser Gegend sehr schön. Die Wüste zeigte sich in allen Ockertönen und das Asphaltband schlängelte sich über die Cuestas und durch weite Ebenen. Ab und zu wich der Weg auf staubige Sandpisten aus, da wurde das Trampeln doch etwas strenger. Links und rechts des Trassees war die Strasse mit Abfall gesäumt. Tausende von Petflaschen und sonstiger Unrat zierte die Landschaft. „Limpieza es Cultura“, stand auf einem grossen Schild, „Sauberkeit ist Kultur (oder Bildung, je nach Auslegung)“. Sind entweder Kulturbanausen oder Analphabeten, die Brummifahrer.

In einer Posada wurde das Zelt aufgeschlagen. Was für eine Nacht. Die Hunde hörten nicht auf zu heulen und fanden das Stoffhaus so interessant, dass sie nicht nur andauernd über die Zeltschnüre stolperten, sondern es auch noch gleich markierten. Ansonsten war’s ja immer ganz gut, wie die Hunde merkten, dass wir eingeladen waren unser Zelt neben dem Haus ihrer Besitzer aufzustellen, aber hier übertrieben sie es eindeutig mit dem Bewachen. Zudem parkierten die Lastwagen noch bis spät etwa zehn Zentimeter vom Schlafplatz entfernt und fuhren natürlich mit Volllicht zu. Naja, allemal besser, als wenn sie das sandfarbene Zelt übersehen hätten.

Guillaumes Beitrag zum Campingleben beschränkte sich im Allgemeinen auf’s Tee kochen, und Patrizia musste ihm schon sehr klare Befehle geben, damit sie nicht alles alleine machen musste. Die Dienstzeit beim französischen Militär hatte sich nicht unbedingt positiv auf Eigeninitiative und auch nicht auf seine Hygiene ausgewirkt. Dagegen war Brös Schweiss, auch mehrere Radeltage kumuliert, der Duft von Rosen. Mit all seinen Maröttchen war Guillaume trotzdem ein liebenswerter Weggefährte, denn er wusste immer was zu erzählen und es war interessant, was ein junger Mann von dreiundzwanzig Jahren, nach fünf Jahren bei der Armee mit seinem Leben zu tun gedenkt. Dass er die Bidons in dieser Ödnis einmal mit salzigem Wasser auffüllte allerdings, war dann schon weniger lustig. Zum Glück hatte es hinten auf dem Anhänger noch zwei grosse Reserveflaschen.

Morgens um zehn brauste Brö im Bus, mit Guillaumes Bike im Gepäckabteil am Tandem vorbei, dessen zwei Passagiere allerdings nichts davon mitkriegten. Patrizia hätte die Übung glatt abgebrochen, hätte der Bus angehalten. Guillaume wählte wiedermal einen Gang, bei dem man mit den Beinen um die Kurbeln zappeln musste, dass man sich schier das Hüftgelenk auskullerte. Kein Wunder fand er es so streng, wenn der Laufapparat im Schleudergang herumgewirbelt wurde! Er schnaubte und stöhnte und bei jeder Pause hatte man das Gefühl, als hätte er gerade einen Marathon unter Verfolgung eines wilden Stiers hinter sich. Dass sich Patrizias Puls etwas schneller erholte, deutete er natürlich damit, dass sie wohl nicht so kräftig in die Pedale trat. Als es langsam dunkel wurde, bestand Patrizia darauf, per Anhalter zur nächsten Posada zu fahren (weil das braake, salzige Wasser hätte nicht mal als Spaghettiwasser getaugt). Guillaume wehrte sich mit Händen und Füssen und meinte, er sei schliesslich hier, um Rad zu fahren, als der Chauffeur anbot, sie gleich noch ein Stück weiter mitzunehmen. Auch recht. In der Posada wurde wieder gezeltet und beim Nachtessen noch lange mit den Camioneros geplaudert. Per Funk hielten sie sich auf dem Laufenden, wie es den Velofahrern auf der Strasse so erging. Gut zu wissen. Allerdings war das Pärchen auf dem Tandem als „Schwulenpaar“ bekannt – eine Frau mit kurzen Haaren, die erst noch per Rad durch die Gegend fährt, passt wohl ganz und gar nicht ins Frauenbild der Südamerikaner. Jetzt, da die Sache geklärt war, hatten die Lastwagenfahrer ein bisschen Aufklärungsarbeit zu leisten, auf ihrer einsamen Fahrt durch die lange Nacht.

Da auf den nächsten zwei Tagesetappen keine Posada zu erwarten war, wurden die Wasserreserven etwas aufgestockt. Dieses Mal mit Trinkwasser. Er lernte rasch, unsere Guillaume. Der Wind, der die ganze Nacht an den Zeltschnüren gezerrt hatte, legte sich auch am Morgen nicht und so kämpfte sich das Tandem gegen den Wind den ersten Hügel hoch. Nach fünf Kilometern stoppte ein Pickup, der Fahrer stieg aus und meinte, er habe von der Frau der Posada den ausdrücklichen Befehl erhalten, die beiden Velofahrer einzuladen und nach Antofagasta zu bringen. Nachdem unser französische Freund gestern so ein Trara wegen ein paar Kilometern Verladen gemacht hatte, wollte Patrizia die Entscheidung ihm überlassen. Er meinte, es sei halt schon verdammt streng mit dem Tandem und so was wie „mit einer Frau im Schlepptau ...“ und he! Wer zieht hier den Schwanz ein? Guillaume, und das verstanden wir angesichts der nicht ganz optimalen Geometrie unseres Velos für lange Leute, sehnte sich nach seinem Bike, mit dem ja alles so viel einfacher ging (und welches gemäss Brös fachmännischer Einschätzung wohl bald von selbst in alle Einzelteile zerfällt) und Patrizia war es auch recht. Der Versuch, mit einem Newcomer auf dem Tandem zu reiten schlug zwar nicht gänzlich fehl, immerhin war die Hälfte des Weges zurückgelegt. Ob Patrizia unter ähnlichen Vorzeichen nochmals den Vordermann tauschen würde, ist allerdings mehr als fragwürdig. Never change a winning team!

Je näher Antofagasta kam, desto dunstiger wurde es. Rund um die Hafenstadt verpesten Zementwerke und andere Rohstofffabriken die Luft und ein Smogschleier überzieht die Hochebene, bevor man durch ein enges Tal hinunterfährt. In der E-Mailbox erwartete die beiden Neuankömmlinge die Adresse von Brös Logis und dieser war schön überrascht, als sie zwei Tage vor Zeitplan auftauchten. Guillaume übernahm Brös Einzelzelle, wir beide zogen in ein Doppelzimmer. Und Patrizia erzählte alles der Reihe nach.

Es war noch früh und wir sahen uns zu dritt ein bisschen in der Stadt um, sassen im Park und tranken einen Kaffee in einer netten Bar. Wir witzelten über die Situationen der letzten Tage und es war schön, konnten wir es mit Humor nehmen. Interessant war, dass Guillaume je nachdem, das Tandem einerseits als superstreng (wenn er fuhr) oder als supereasy (wenn wir fuhren) bezeichnete... Plötzlich begann sich der Boden unter unseren Füssen zu bewegen, die Lampen fingen an zu pendeln und die grossen Scheiben zitterten. Wir dachten an eine Metro – die hatte es hier aber gar nicht, und als es nicht aufhörte zu vibrieren, verliessen einige Gäste das Lokal. Ein paar hundert Kilometer entfernt hatten die Leute weniger Glück, als ein Erdbeben von siebenkommaneun ihre Lehmhäuser quasi zermalmte. Wenn man die Bilder sah, erstaunte es einem, dass ein Beben dieser Stärke nicht mehr Opfer forderte. Ein Vorteil, dass man hierzulande kaum mehrstöckige Häuser findet. Es war nicht das erste Mal, das wir in Chile die Erde beben spürten, die Menschen hier scheinen damit zu leben.

Am nächsten Tag machte sich Guillaume auf den Weg Richtung Calama, wir blieben noch zwei Tage. Antofagasta war weit weniger chaotisch als beschrieben – wir werden wohl nie eine Stadt finden, die uns nicht gefällt oder Lonely Plantet’s Autoren sind ganz einfach zu abgelöscht, um auch mal ein gutes Wort über eine „normale“ Stadt zu verlieren. Jedenfalls konnte man hier gut ein bisschen Zeit totschlagen, wenn es sein musste. Wir liessen vom Traumatologen Brös Knie inspizieren mit der Diagnose, dass die Pantellasehne entzündet sei. Eine langwierige Sache sei das – der Mensch sei einfach nicht für solche Anstrengungen konzipiert. Dabei radeln wir erstens im Allgemeinen überhaupt nicht viel und zweitens ist dieses Problemchen in einer Phase aufgetreten, die alles andere als besonders streng war. Brö konnte gleich mit der Therapie beginnen und liess seinem Knie Wärmebehandlungen in Form von Elektrotherapie, Mikrowelle, Ultraschall und Lasertherapie angedeihen. Die Kinesiologin zog alle Register der modernen Medizinaltechnik. Voltaren wurde durch ein stärkeres Präparat ersetzt und Brö erhielt zehn Tage Radelverbot.

Antofagasta – San Pedro de AtacamaBesuch in der Oase

So schön war Antofagasta nun auch wieder nicht, dass wir allzu lange dort rumgehockt wären. Wir nahmen den Bus nach Calama und hielten Ausschau nach einem einsamen Radfahrer. In Calama (einem weiteren Städtchen, das in den Reiseführern schlecht wegkommt) gefiel's uns auf Anhieb. Nicht, dass der Ort etwas Spezielles zu bieten gehabt hätte, aber vielleicht ist es ja gerade das, was eine Ansiedlung interessant macht. Ganz normale Menschen, ein ganz normales Stadtleben. Wir quartierten uns im günstigsten und nettesten Residencial ein und hatten dort ganz viele schöne Begegnungen mit den Einheimischen.

Mit Guillaume, der inzwischen auch eingetroffen war, besuchten wir das bolivianische Konsulat, denn wir hatten gehört, nachdem der amtierende Präsident zurückgetreten war und ein Interimspräsident die Staatsführung übernommen hatte, dass sich die Lage im Andenstaat beruhigt habe. Der nette Herr überzeugte uns in bester Tourismusdirektor-Manier, dass es zumindest bis zu den Neuwahlen ruhig und überhaupt kein Problem sei, sein Land zu bereisen. Die Neuwahlen waren auf Ende Jahr angesetzt und so tat sich zumindest dieses Tor unserer Weiterreise wieder auf.

Die Besichtigung der weltgrössten Kupfermine, die ein paar Kilometer entfernt lag, wollten wir uns auf keinen Fall entgehen lassen und blieben übers Wochenende. Guillaume verliess uns Richtung Anden und wir schauten ihm sehnsüchtig nach. Wir mussten uns mit dem Studium der Karten und Strecken, die uns zur Verfügung standen zufrieden geben. Eingestehen, dass für die nächsten Wochen Schluss ist mit Radfahren, wollten wir uns beide nicht. Den heiligen Sonntag widmeten wir unserem Material. Von Tandem und Anhänger, über Zelt, Schlafmatten und Packtaschen bis zu den Schuhen wurde alles geputzt und gewaschen. Hier oben, auf gut zweieinhalbtausend Metern, mitten in der Atacamawüste war die Luftfeuchte gegen null und das Zeugs trocknete im Handumdrehen.

Im Sammeltaxi fuhren wir zur Chuquicamata-Mine und gesellten uns zu den versammelten Touristen Chiles. Hier waren sie also alle versteckt. Im grossen Bus wurden wir zum Rand des gigantischen Lochs, das hier in den mineralreichen Boden gesprengt wurde, gebracht. Die Ausmasse waren unvorstellbar: viereinhalb Kilometer lang und achthundert Meter tief. Und mittendrin sausten die Spielzeugkipper umher, die beim Näherkommen allerdings zu Monstern heranwuchsen. Irgendwie verlor man den Sinn für Grössenverhältnisse. Wenn man aber einen winzigen Pickup hinter den Lastwagen herfahren sah, glaubte man allerdings doch, dass diese pro Ladung zwischen drei- und vierhundert Tonnen Gestein transportieren. Wenn man dann aber beobachtete, dass diese paar hundert Tonnen in bloss drei, aus Distanz reichlich locker ausschauenden, Schaufelhieben von den Kränen aufgeladen waren, verliess einem wieder jede Vorstellungskraft. Für’s Erinnerungsfoto hatten sie einen ausrangierten Kipper mit der mageren Kapazität von hundertfünfzig Tonnen abgestellt, aber selbst neben diesem kam man sich ziemlich klein vor. Es wäre, gelinde gesagt, bestimmt ein affengeiles Gefühl mit so einem Ungetüm rumzublochen. Das meinte zumindest Brö.

Eine Wonne wäre es bestimmt auch gewesen, mit dem Velo nach San Pedro de Atacama zu fahren, worauf wir aus bereits ausgiebig dargelegten Gründen verzichten mussten. Das Radlerherz fing an zu bluten, als wir uns über die Quebrada de Sal, einer unglaublich faszinierenden, fast unwirklichen Gegend der Oase näherten. Jedoch, bereits die anderthalb Kilometer zum Busbahnhof zeigten, dass Brö’s Knie noch überhaupt keine Fortschritte gemacht hatte – es schmerzte wie vor drei Wochen. Das kann doch nicht sein! Deshalb entschlossen wir uns, am nächsten Tag nochmals „ins Tal“ zu fahren und das Knie genauer untersuchen zu lassen. Wir quetschten uns in den prallvollen Terminkalender eines Traumatologen und konnten davon profitieren, dass es die Patienten hierzulande nicht so genau mit der Zeit nehmen, denn zu Beginn der Sprechstunde war noch niemand da. Zum Glück war auf den Röntgenaufnahmen keine ernsthafte Verletzung zu entdecken, aber da die Sehne noch immer entzündet war, erhielt Brö noch einmal zehn Therapielektionen verschrieben, noch ein bisschen was aus dem Medikamentenschrank und nochmals drei Wochen absolutes Veloverbot!

Per Flugzeug sollten unsere Besucher, die zufällig unseren Weg in dieser einsamen Wüste kreuzten, in Calama eintreffen. Eigentlich hatten wir uns in San Pedro verabredet, da wir aber sowieso für den Arzttermin hier unten waren, wollten wir sie überraschen und am Busbahnhof abholen. Als jedoch auch um die Abfahrtszeit des Busses noch nichts von Sandra und Roger zu sehen war, dämmerte uns, dass, entgegen allen südamerikanischen Gepflogenheiten, ihr Flieger eventuell pünktlich gelandet war und sie es auf einen früheren Bus geschafft haben könnten. Dass dem so war, ist wohl klar. So warteten sie in San Pedro darauf, von uns empfangen zu werden, während wir anderthalb Busstunden entfernt nach ihnen Ausschau hielten. Als wir im Hostal ankamen, meinte die Señora, unsere Freunde seien bereits eingetroffen und etwas später konnten wir sie in einem netten Restaurant in die Arme schliessen. Wie schön sie zu sehen! Wir sprudelten darauf los, wir hatten uns mächtig viel zu erzählen. Am späten Abend gab’s noch Bescherung und wir schauten uns zu früher Stunde Fotos von Zuhause an und lasen die Briefe aus der Heimat.

Während sich Brö in die Therapie begab, assen Patrizia, Sandra und Roger im schönen Patio des Hostals an der Sonne Frühstück. So richtig gemütlich. Wenn die Nächte auch kühl waren, wurde es morgens schnell warm und man konnte den ganzen Tag draussen sitzen. Am Nachmittag machten wir eine Tour ins Valle de la Muerte, einem Tal, inmitten zackiger, rot leuchtender Felsen. Nach einem kurzen Spaziergang durch den Sand ging's weiter zum Valle de la Luna, dem Touristenmagneten des Ortes und Welterbe. Ob dieses allerdings spektakulärer war, als das Tal des Todes, muss wohl jeder selbst entscheiden. Schön war es allemal, sich von dort aus an dem Sonnenuntergang und dem Blick auf die von den letzten Strahlen feuerrot erleuchteten Andengipfel zu erlaben. Auf einer Krete genossen wir gemeinsam einen Apéro zum Naturschauspiel.

Auch den nächsten Tag gingen wir gemütlich an, plauderten in unserem Patio, flanierten durch’s Dörfchen und organisierten eine Jeeptour nach Bolivien. Nachmittags erkundeten wir auf Pferderücken die Umgebung, ritten durch den etwas weniger touristischen Teil der Stadt und konnten von erhöhter Lage über die Lehmwände in die Innenhöfe der Häuser sehen. Unsere beiden Freunde waren sichtlich froh, als wir uns nach drei Stunden wieder den Stallungen näherten, es waren aber auch wirklich etwas nervöse Rössli, die wir erwischt hatten. Nachdem wir am Vorabend unseren Besuch bekocht hatten, revanchierten sie sich heute, denn wir mussten noch einiges umpacken für die Tour in den Altiplano am nächsten Morgen.

San Pedro de Atacama – Uyuni (Bolivien)Bolivian “High”-lights

Der Agencias waren viele, in San Pedro, Angebot und Preis differierten kaum und die "Hermanos" von dem kleinen Office mit dem klingenden Namen "Estrella del Sur" – Stern des Südens – waren uns recht sympathisch. Es zirkulieren allerhand Räubergeschichten über den viertägigen Circuit zu den Lagunen und Salzseen im Südwesten Boliviens, besoffene Chauffeure, vergessene Lebensmittel, klapprige Jeeps, taubstumme Fahrer und Temperaturen von minus zwanzig Grad. Letzteres erfuhren auch wir, den ganzen Rest dürfen wir zum Glück nach wie vor ins Reich der Sagen und Legenden abtun. Simon, unser Führer, Fahrer und Koch, in dessen erstklassigen Landcruiser wir uns an der windumtobten Grenzstation auf viereinhalbtausend Metern über Meereshöhe, wegen zahlreicher positiver Empfehlungen, geschickt und mit Nachdruck eingeschmuggelt hatten, schien eine löbliche Ausnahme im breiten bolivianischen Touri-Touren-Fahrerfeld zu sein.

Wie gesagt, wir standen im eisigen Morgenwind, die gestempelten Pässe wieder im Sack und eine dampfende Tasse Kaffee in der Hand. Wir hatten uns schon mal ein paar zusätzliche Schichten aus Kunstfasern angezogen. In unsere Gruppe gesellten sich, neben Sandra und Roger, Walter, der junge Bursch aus der Steiermark und Toshiba (oder so ähnlich) aus dem Lande der Samurai und Sony Farbfernseher. Ein illustres internationales Grüppchen, das sich hier gefunden hatte. Simon schnallte das Gepäck auf's Dach und los ging's zur Laguna Blanca, danach zum grünen Pendant, sehr fotogen am Fusse des Vulkans Lincancabur gelegen. Vorbei an den Dalí-Felsen, durch die atemberaubende Landschaft des Altiplano, bis zur Laguna Hedionda mit dampfender heisser Quelle. Azurblauer Himmel, ein paar dezente Schleierwölkchen, die Felsen und Berge leuchteten von Schimmelgrün bis Schwefelgelb und deckten das ganze Rotspektrum ab. Diese faszinierende Landschaft gerecht zu beschreiben, bedürfte wohl etwas ausgefeilterem schriftstellerischem Flair und den Bezeichnungen eines kompletten Caran d'Ache-Zweihundertfarben-Profi-Aquarellsets. Wir machen's uns einfach und verweisen die erlauchte Leserschaft auf die Fotos. Monets Landschaften sind ja schliesslich auch viel schöner anzuschauen, als ausgedehnte Kritiken darüber zu lesen.

Beschränken wir uns also auf's Drumherum und lassen die Bilder für sich sprechen. Nur soviel noch: Es war unglaublich eindrücklich und wir konnten uns während drei Tagen kaum satt sehen an Farben und Formen, die in dieser Abgeschiedenheit unsere Sinne betörten. Vielleicht war es auch die Höhe, die uns die Sinne verwirrte, denn bis auf knapp fünftausend Meter führte der Weg, der von Schotterpisten über Salzflächen, Sandpassagen und Erdstrassen bis Allradkletterpassagen über ruppige Geröllfelder alles zu bieten hatte. Die Idee, diese Strecke mit dem Tandem zurückzulegen hatten wir nach einer blumigen Beschreibung eines Fernradlers schnell beiseite gelegt. Uns war's wohl mit genügend Diesel-PS, Allrad und Stossdämpfern und den erstklassigen und professionellen Ausführungen und Kommentaren unseres Fahrers. Nicht nur wortgewandt war er, unser Simon, auch ein akzeptabler Küchenchef. Selten hatten frittierte Wienerli in original Servelat-am-Stecken-Form so gut geschmeckt. Nach einer kräftigen Gemüsesuppe im SAC-Stil sowieso. Aber wir suchen hier ja auch nicht die kulinarische Erfüllung.

Es dampfte nicht bloss aus Thermoskrügen und Suppentöpfen. Bei den Sol de Mañana-Geysiren hüllte es uns in schwefligen Dampf, aus der Erde blubberte und zischte es, als sei eine Boing sieben-vier-sieben beim Durchstarten. Es war echt eindrücklich. Am nächsten Tag rauchte es auch noch aus einem Vulkan - eine ziemlich aktive Gegend hier. Wir fühlten uns irgendwie zurückversetzt an den Beginn der Erdgeschichte. Die Elemente waren spürbarer als anderswo, aber das ist ja immer so, wo der Himmel die Erde berührt.

Der Abendhimmel verfärbte sich langsam, wobei auch ohne dieses Zutun die Laguna Colorada in allen Farben schimmerte. Darauf verschwand die Sonne hinter dem Horizont und uns gefror fast das Gesicht. Wir stellten uns auf eine sehr kalte Nacht ein und ein jeder hatte seine eigene Theorie, den dutzenden Minusgraden im ungeheizten und spärlich eingerichteten Refugio zu trotzen. Besser als die Flamingos in den Lagunen hatten wir's allemal – Federkleid hin oder her. Wenn einem das mineraliengeschwängerte Wasser um die Knöchel gefriert, raubt einem das bestimmt den Schlaf. Vielleicht ist dies aber gerade der Trick, um auf einem Bein ein Nickerchen zu machen...

Im Hotel de Sal, am Ufer des Salars verbrachten wir unsere zweite Nacht. Und "de Sal" ist wirklich wörtlich zu nehmen: Ein Gebäude ganz aus Salzquadern errichtet. Selbst die Inneneinrichtung, Tische, Bänke, ja sogar die Betten waren aus Salz gehauen. Am Boden waren nicht etwa Teppiche verlegt, man ging auf grobkörnigem Salz. An diesem unorthodoxen Baustoff mangelt es hier wahrlich nicht. Auf einer Fläche, gut ein Viertel so gross wie die Schweiz, erstreckt sich eine blendend weisse Fläche meterdicken Salzes - der Salar de Uyuni. Seines Zeichens grösster Salzsee der Welt.

In aller Herrgottsfrühe fuhren wir am folgenden Morgen los, um rechtzeitig zum Sonnenaufgang auf der Insel Incahuasi zu sein. Bei weissgottwievielen Minusgraden (sakrale Superlative scheinen sich bei dieser Nähe zum Firmament geradezu aufzudrängen) standen wir auf dem Gipfel des kleinen Eilandes, hielten uns mit Turnübungen und kleinen Tänzchen warm und bei Laune. Die Sonne ging langsam hinter den meterhohen Kakteen auf und die ersten Strahlen des Tages waren Balsam auf unserer Haut. Mit jedem Grad, mit dem der Feuerball höher über den Horizont kletterte, floss wieder mehr Blut durch unsere Glieder. Simons Feldküche war bereits in vollem Gange, dass die wohlige Wärme bald auch durch die Innereien des Körpers strömte.

Die nächsten achtzig Kilometer sausten wir auf der glatten weissen Ebene der Sonne entgegen und hielten mitten im Nirgendwo an, um uns in dieser unwirklichen Welt auszutoben. Kein Geräusch war zu vernehmen und bis zum Horizont keine Menschenseele auszumachen. Die verspiegelten Sonnenbrillen reflektierten nichts anderes als weiss und blau. Die Dimensionen waren unvorstellbar und ebenso unbeschreiblich. Da können die Arbeiter, die das Salz am Rande des Salars von Hand abbauen getrost noch ein paar Millionen Jahre pickeln und schaufeln, bis dieser Salzsee umgegraben ist.

Es war eine überwältigende Tour und ein wunderschöner Abschluss des Blitzbesuches von Sandra und Roger. Abends begossen wir bei einem leckeren Stück Lama die gelungenen Tage und liessen die beiden am nächsten Morgen wirklich nicht gerne ziehen. Während sie ihre Reise in Bolivien fortsetzten, kehrten wir per Viermalvier zurück nach Chile.

San Pedro de Atacama (Chile) – Salta (Argentinien)Supermänner, Kinesiologen und Gauchos

Nun waren wir wieder alleine. Das heisst, ganz alleine natürlich auch nicht, denn in unserem Hostal hatte es immer ein paar plauderwillige Touris. Und auch die Señoras, die den Laden in Schuss hielten, waren sehr nett. Man traf sich in der Küche oder beim Essen unter der kleinen Veranda. Wir verbrachten noch etliche Tage in San Pedro de Atacama, von Brö abfällig mit „Disney Land“ betitelt, denn im Zentrum war das Verhältnis von Travellern und Einheimischen kaum mehr im Lot und es war so schick herausgeputzt und auf authentisch getrimmt, dass es schon eher kitschig war. Von den touristenfreundlichen Restaurants mit ihren horrenden Preisen ganz zu schweigen.

Just an dem Tag aber, als wir von der Jeeptour zurückkehrten, traten die Touristen in den Hintergrund. San Pedro wurde geehrt und die halbe Dorfbevölkerung defilierte hinter den Priestern, Marienstatuen wurden herumgetragen und auch das Konterfei des Dorfpatrons. Die Kapelle spielte auf, Vereine und Gruppen in Uniform stolzierten durch die Gassen. Die andere Hälfte der Einheimischen, zaghaft durchmischt mit Touristen, wohnte dem Spektakel in allen Winkeln des Dorfes bei. Wir natürlich auch.

Ansonsten waren die Tage von folgendem Muster geprägt: Um Viertel vor acht musste Brö aufstehen um den Achtuhr-Bus nach Calama zu erwischen, gute anderthalb Stunden Fahrt (hundert Kilometer pro Weg), zur Therapie beim Kinesiologen, Mikrowellen-, Laser- und Ultraschalltherapie, etwas Kneten und Massieren, Oberschenkelmuskulatur stärken (wieso genau dies bei Brös Quadrizepsumfang nötig sein sollte, haben wir nicht ganz begriffen), mit Glück noch schnell einen Kaffee hinunterschletzen, auf den Elfuhrdreissig-Bus zurück nach San Pedro. Patrizia konnte es etwas gemütlicher nehmen und die Hängematten im Patio ausgiebig auskosten. Dafür aber durfte sie nicht die amüsanten Fahrten geniessen, denn auf dieser Strecke wurde der Bus vom wohl verrücktesten Chauffeur Südamerikas pilotiert. Ausnahmsweise bezieht sich das nicht auf den Fahrstil, denn dieser war überaus angenehm, nein, jeden Morgen setzte sich der Mann verkleidet hinter das Steuer. Als Zorro, Superman, Batman oder Spiderman, mit Maske und allem Drum und Dran. Während der Fahrt gab’s über Mikrofon Geschichten, Interviews mit imitierten Personen, immer passend zum aktuellen Protagonisten und Zeitgeschehen. Das Hauptanliegen schien dem Fahrer, die Passagiere über Aids und Verhütung aufzuklären und gegen den Missbrauch und die Misshandlung von Kindern zu dozieren. Immer auf eine treffende und witzige Art und mit einer angenehmen radiogenen Stimme vorgetragen. So originell und menschlich wurde uns HIV-Prävention noch nie präsentiert.

Die Nachmittage verbrachten wir meist im Patio mit Lesen und Schreiben und nach zwei Wochen starteten wir kleinere Ausflüge mit dem Tandem. Meist geradeaus und ohne Gepäck versteht sich. Es war nun über ein Monat vergangen, seit dieser blöden Kniegeschichte und es juckte uns ganz gewaltig in den Waden. Beim Radeln traten keine Beschwerden auf und Brö wollte natürlich sofort mit der Therapie aufhören. Nix da, hiess es von oben und so hängte er halt noch ein paar Sessionen an. Wäre ja wirklich zu blöd, wenn sich so was wiederholen würde. Die Chancen, dass eine Kniescheibensehnen-Entzündung chronisch werde seien hoch, meinten Ärzte und Therapeuten. Holz alänge!

Die Idee, zumindest einen Teil des Paso de Jamas zu erradeln, hatten wir noch nicht ganz beerdigt. Zumindest füllten wir zwei Kanister mit Wasser und banden sie auf den Anhänger. Die steile Rampe, zweitausend Höhenmeter in gut dreissig Kilometern, durften wir zwar Brös Knie noch nicht zumuten, aber danach solle es ja bloss noch bergab gehen. Und wie der Zöllner meinte, sei nun fast die ganze Strecke asphaltiert. Bloss war heute kein Lastwagen in die gewünschte Richtung unterwegs und wir warteten vergebens Stunden am chilenischen Grenzübergang auf einen Huckepack bergauf. Der Zufall wollte es, dass die Chauffeure eines an sich vollen Reisebusses den Fahrpreis für zwei zusätzliche Passagiere in ihren eigenen Sack wirtschaften wollten und somit das Verladen unseres Tandems, trotz voller Gepäckabteile und entgegen den Aussagen der Transportfirmen, auf dieser Strecke nähmen die Busse keine Fahrräder mit, kein Problem darstellte. Also packten wir die Gelegenheit beim Schopf und fuhren direkt ins gut fünfhundert Kilometer entfernte Salta. Vermutlich war das auch besser so, denn ganz so flach war die Strecke dann doch wieder nicht. Zwar fuchste es uns schon, als vor unserem Fenster diese grandiose Andenlandschaft vorbeizog, aber man kann halt nicht alles haben.

Erst nach Mitternacht kamen wir in Salta an und fuhren mit beladenem Tandem durch die erstaunlich hell beleuchteten aber menschenleeren Strassen. Trotz Hochsaison fanden wir schnell ein Zimmer und hauten uns in die Haja. Wir schliefen aus und genossen beim Frühstück wieder echte argentinische Gastfreundschaft. Hier ist es halt doch am schönsten! Der Kaffee rann wieder aus grossen Kolbenmaschinen in die Tasse, Medialunas standen auf dem Tisch und, unter uns gesagt, die Leute waren nicht bloss herzlicher, sondern auch hübscher.

Nichts desto trotz mussten wir uns eine andere Bleibe suchen, denn es herrschte, wie gesagt, Hochbetrieb in dem Städtchen. Salta schien ein richtiger Magnet für die Argentinier und da gerade Schulferien waren, war es komplett überlaufen. In einer Casa de Familia fanden wir doch noch ein Zimmer und es gab fröhliche Plauderstunden mit den anderen Gästen und den Hausmüttern. Wir kochten unsere Lieblingsmenus und immer stand eine gute Flasche Wein auf dem Tisch. Wäre das Wetter etwas besser gewesen, wir wären wohl noch viel häufiger auf der schönen Plaza gesessen, hätten gemütlich die Zeitung gelesen, dem geschäftigen Treiben zugesehen und uns von Café mit Medialunas ernährt. So aber holten wir einmal mehr Schreibkram nach.

Ein Hauptgrund, wieso wir überhaupt erneut nach Argentinien gequert waren, war, dass wir von hier aus ein Pferdetrekking machen wollten. Die Organisation, respektive die Zahlungsmodalitäten waren zwar alles andere als einfach und auch der Regen wollte nicht aufhören. Als wir am Samstagabend von Fernando, unserem Führer aber die Satteltaschen kriegten, um unsere Habe darin zu verstauen, wurden wir zuversichtlich. Und als am nächsten Morgen auf dem Weg nach La Viña sogar der Himmel aufklarte, herrschte Eitel Vorfreude im Minibus. Unserem Treck schlossen sich vier Argentinier an und es zeichnete sich sofort ab, dass diese vier Tage alles andere als langweilig würden.

Bald waren unsere Pferde gesattelt und wir ritten los. In gemütlichem Schritt ging's durch ein grünes Tal und bereits bei der ersten Mittagsrast befanden wir uns mitten in der Abgeschiedenheit. Unsere argentinischen Freunde hatten schon lange über nichts mehr anderes als den Almuerzo (Zmittag) diskutiert. Es gibt also noch grössere Fresssäcke als wir. Aber selbst die grössten Schlemmermäuler kamen in den folgenden Tagen voll auf ihre Kosten. Das Mittagsbuffet war jeweils grossartig, mit kaltem Asado, Poulet (dies allerdings bloss, bis Martin, der Hund, der uns begleitete, in einem unbeobachteten Augenblick seine Vorliebe für Geflügel offenbarte), Salami, Mortadella, Käse, Eier, Brot, Früchte und Pasta Frola, Brös Lieblingsgebäck zum Nachtisch. Als diese dann ausging (welch Wunder) präsentierten uns die Einheimischen einen weiteren Desserttipp: eine dicke Scheibe Rahmkäse, mit einer ebenso grossen Portion Gelée-Konfitüre belegt. Dagegen ist Mousse au Chocolat eine Rezeptidee aus dem Weight-Watchers-Magazin.

Aber Reiten ist ja nicht bloss ein bisschen auf dem Rössli sitzen, selbst wenn man gemütlich durch die Lande trottet. Nach etwas sechs bis sieben Stunden täglich auf einem Pferderücken hatten wir jeweils mächtig Kohldampf und man konnte nur hoffen, dass die Beine beim Absteigen nicht versagten. Zum Glück gab es zur Stärkung beim Erreichen des Etappenziels jeweils einen Cafécito mit allem Drum und Dran, denn üblicherweise wurde mit dem Nachtessen bis neun, zehn Uhr zugewartet. Dafür stand dann aber das volle Programm auf dem Tisch. Empanadas, Chivito (Gizzi aus dem Lehmofen) oder Milanesas. Natürlich immer begleitet von Wein aus der Gegend.

So, nun genug vom Essen, irgendwie scheint dies von unseren argentinischen Freunden abgefärbt zu haben. In vier Tagen ritten wir etwa zweihundert Kilometer, über dreitausend Meter hohe Pässe, durch tiefe und enge Schluchten, über Gras, Geröll, Sand und Schnee, vorbei an Riesenkakteen und Felswänden, durch weite, offene Prärie, grüne Täler, Wälder, in Bachbetten und durch Flüsse. Kein Tag glich dem anderen und jeder Abschnitt der Strecke wartete mit anderen Naturschönheiten auf. Es war eine unglaublich schöne und abwechslungsreiche Landschaft, durch die uns das Trekking führte. Wir konnten uns kaum satt sehen an Farben und Formen. Für einmal konnte auch Brö seinen Blick vom Pfad abwenden, denn so ein Rössli aus Fleisch und Blut ist ja im Gegensatz zu einem Stahlross schlau genug, seinen Weg selber zu finden. Allerdings, so ganz ohne Steuern geht es auch auf einem Pferdesattel nicht, waren die Pfade doch teilweise in „Bergweg“-Qualität. Wir waren froh, solch trittsichere Gäule aus den Bergen und keine Concours Hippique-Pferde zu haben, denn es ging nicht bloss steil bergauf- und ab, sondern neben den schmalen Pfaden teilweise senkrecht in die Tiefe. Schon äusserst praktisch, wenn man anstelle zweier gummibesohlter Füsse vier Hufe hat. Und natürlich auch, dass man bergauf weder zu laufen noch zu treten hatte, sondern bloss ein bisschen die Sporen zu geben brauchte.

Während sich Fernando hauptsächlich um die menschliche Fracht kümmerte, versorgte Talo, ein junger Gaucho wie aus dem Bilderbuch, die Pferde. Wortkarg, in einen warmen Poncho gehüllt und mit typischem Sombrero auf dem Kopf, sass er auf seinem Maultier, im Schlepptau ein beladenes Pack- und Ersatzpferd. Morgens konnte man ihm beim Einfangen der Tiere mit dem Lasso zusehen und es brauchte schon Einiges, um ihm ein paar Worte zu entlocken. Pferde, Rinder und Schafe waren wohl eher sein Ding. Was Talo aber an Redseligkeit abging, machte der Rest der Bande mehr als wett. Die beiden Juristen, Julio aus Buenos Aires und der Cordobese Agustín, zogen eine Anekdote nach der anderen aus ihren Advokatenärmeln. Die Sextherapeutin Vicky gab natürlich, ihrer prominenten Tätigkeit wegen, ebenfalls einiges an Gesprächsstoff her und auch die Vierte im Bunde, Laura, ebenfalls aus der Landeshauptstadt, hielt nicht hinter dem Zaun. Nun war vor allem Brö manchmal doch etwas überfordert, dem Redefluss des illustren Quartetts zu folgen.

Nicht bloss zu Pferd hatten wir Unterhaltung nonstop, sondern auch abends beim Essen oder am Lagerfeuer hatten wir ausgiebig Gelegenheit mehr über Land, Leute, Gauchos, Fincas, die Rechte von Hunden und anderen Dieben und allerhand sexuelle Neigungen zu erfahren. Fernando und Vicky griffen ab und zu zur Gitarre und gaben melancholische Tangos und Gaucholieder zum Besten. Jeweils zu später Stunde legten wir uns schlafen und immer wieder imponierte unser Equipment unseren argentinischen Freunden, wenn wir mit den „Minenarbeiter-Lichtern“ (= LED-Stirnlampen) auf dem Kopf aus den bloss handballgrossen Kompressionssäcken unsere „Sarkophage“ (= Mumienschlafsäcke) zückten und uns im „Neoprenanzug“ (= Thermounterwäsche) in die Schlaftüten krochen. Wie hätten sie wohl über unsere restlichen hochkompakten und technischen Teile gestaunt. Laura schlug vor, wir sollen in Buenos Aires die „Swiss School of Luggage“ gründen, ein Markt, der in Argentinien wohl nicht bloss an den astronomischen Preisen für Qualitäts-Outdoormaterial scheitern würde. Dass es nämlich auch anders geht, zeigte die erste Nacht in einer Lehmhütte, in der wir auf dem Erdboden auf den Fellen und Filzmatten unserer Gauchosättel schliefen. Das war echtes Cowboyfeeling und mit einer Therm-a-Rest selbstaufblasenden Isoliermatte nie und nimmer zu ersetzen.

Am Tag vier, nach einem letzten Kraftakt, genauer, nach etwa zehn Stunden auf dem Pferderücken, erreichten wir die Finca, von der wir gestartet waren. Wir verabschiedeten uns herzlich von unseren lieb gewonnenen Pferden Pantera (schwarz wie ein Panther) und Pinta (gefleckt wir Freiburger Vieh) und liessen uns auf der Heimfahrt vom nie enden wollenden Redefluss der Advokaten in Schlaf geleiten. Es waren vier unvergleichlich schöne Tage und nachdem wir nun schon vernarrt in Hunde, Kaninchen und Schafe sind, müssen wir dereinst wohl auch noch einen Pferdestall im Garten bauen.

Es regnete wieder und war grau und wir wollten uns gar nicht ausrechnen, wie kalt es auf viertausend Metern über Meer sein würde. Nichts desto trotz sattelten wir unseren Göppel und fuhren zur Busstation. Wir wollten die Strecke San Antonio de los Cobres – Salta zumindest abwärts beradeln. Für den Weg rauf wählten wir die knieschonende und bequeme Busvariante. Abends, nach sechsstündiger Fahrt, die uns der Fahrzeug- und Strassenqualität wegen stark an Afrika erinnerte, erreichten wir den Bergbauort. Wir hauten uns noch kurz eine Milanesa rein und legten uns in luftiger Höhe schlafen.

Minusgrade herrschten am nächsten Morgen in unserem Zimmer und wir zogen es vor, später am Wegrand in der Sonne zu frühstücken. So konnten wir auch gleich unsere erste Pause einlegen, denn bevor es bergab ging, war noch ein Pass von viertausendzweihundert Metern zu erklimmen. Nicht bloss die lange Velopause, sondern auch die dünne Luft raubte uns den Schnauf. Immerhin wärmten einem die Sonnenstrahlen und nach einer ersten Steigung ging es über mit Puna-Gras bestandene Ebenen. Die Flüsse waren gefrorene Eisbänder, die nackten Bergspitzen präsentierten sich in allen Farben, orange, rot, weiss, gelb, braun und grün. Wind und Wetter hatten skurrile Formen in die Felsen geschliffen. Es war herrlich schön. Der Wind schob uns über die Schotterpiste die letzte Steigung hinauf auf den Pass. Unser erster gemeinsam erradelter Viertausender! Okay, wir waren bloss ein paar hundert Meter weiter unten gestartet und zudem mit erleichtertem Gepäck unterwegs – aber immerhin, wir freuten uns. Von da an ging’s bloss noch bergab, zuerst auf schönem Asphalt, doch bald wurde es wieder holprig. Iker und Begoña, zwei Radler aus dem Baskenland, die sich in entgegengesetzter Richtung quälten, benieden wir ganz und gar nicht, denn Wind und Gefälle waren noch immer auf unserer Seite. Obwohl wir uns noch nie vorher begegnet waren, wussten sie ziemlich genau, wo und wie wir unterwegs waren und sogar von Brös Knieproblemen. War wirklich interessant, wie eifrig hier in Südamerika Radlergeschichten ausgetauscht wurden. Mit guten Wünschen schickten wir die Beiden Richtung Argentinien und flitzten weiter.

Uns eröffnete sich ein herrlicher Ausblick über ein weites, kakteenbestandenes Tal und im Verlaufe des Nachmittages fanden wir eine Unterkunft in der Abstellkammer eines kleinen Restaurants und genossen die letzten Sonnenstrahlen lesend auf den aufgewärmten Felsblöcken. Die zwei Frauen vom Parador waren total härzig und zauberten uns auf dem Holzkohleherd (Gas sei ja so kompliziert) ein superfeines Nachtessen. Am nächsten Morgen teilten wir uns das Konfibrot mit Muchacho, dem kleinen Hund, der sich an einem Selbstbedienungsbuffet wähnte. Brös warmen Faserpelzhandschuh fanden wir in seinem Lager – so ein Frechdachs! Die alte Abuelita (Grossmütterchen) hatte von ihrer Tochter den Auftrag, uns für’s Essen eine grüne Note zu verlangen (sie kannte sich mit dem neumodischen Geld nicht so aus), für die Übernachtung wollten sie nichts. Es ist wirklich schön, solche Gastfreundschaft zu erleben. Wir gaben ihr zwei Grüne.

Die Schotterpiste war extrem staubig, die Quebrada extrem eindrücklich. Die perfekte Kulisse, um den zehntausendsten Radelkilometer zu feiern. Mit Schoggi, Crackern und Tee stiessen wir am Strassenrand auf dieses Ereignis an. Gemäss Schätzungen vor unserer Abfahrt hätten wir diese Marke ja bereits in der Hälfte der Zeit überschritten, aber das ist ja gerade das Schöne an dieser Reise: Das Ziel ist offen und auch der Weg. An dieser Stelle wäre wohl wiedereinmal etwas Statistik angebracht:

Es wurde flacher und die Kilometer zogen sich in die Länge. Wir konnten uns in Salta gerade noch an einen Wurststand retten. Das tat gut, was essen! Auf der Plaza gab's Kaffee und natürlich Medialunitas und wir diskutierten lange über unsere zukünftigen Reisepläne. Die Testfahrt war erfolgreich verlaufen, also stand einer Weiterreise nichts mehr im Wege. Drei Tage brauchten wir allerdings schon, um dafür bereit zu sein. Wir sind schon unglaubliche Lebenskünstler. Wir könnten Bände füllen, mit Kleinigkeiten, die unsere ganz normalen Tage ausfüllen.

Salta –Jujuy – Humahuaca – Villazón (Grenze Bolivien)Wechsel der Kulturen

Ein letztes Abschiedsfoto für’s Familienalbum und wir fuhren los. Aus der Stadt, ein trockenes Tal aufwärts über ein schweisstreibendes Pässchen. Immer wieder passierten wir winzige Dörfchen und Fincas. Dann änderte sich die Landschaft urplötzlich und wir fuhren in einem saftiggrünen Wald. Die Strasse schlängelte sich in gemütlichen Kurven den Hängen entlang und langsam bergab. In El Carmen war Siestazeit, das machte es immer einfach und angenehm, eine Runde durch's Dorf zu ziehen. Die Wahl der Unterkunft war ebenfalls einfach – es gab bloss eine. Wir setzten uns auf die Plaza, studierten Reiseführer und als es dunkel wurde, bestellten wir uns im „Mama Mia“ eine superleckere Pizza.

Den Besuch der Provinzhauptstadt Jujuy beschränkte sich auf eine kurze Stadtrundfahrt, einen Kaffee mit integrierter Ansichtskartenschreiberei. Wir hatten erst dreissig Kilometer in den Waden und wollten noch ein bisschen weiter. Es ging bergauf und wir waren froh, dass wir heute leichtere Kleider angezogen hatten. Es war fast schon ungewohnt heiss hier. Beim Policia-Kontrollposten füllten wir unsere Wasservorräte auf und nahmen ein paar weitere Kilometer unter die Räder. Auf einem Campingplatz stellten wir unser Zelt auf, hielten erstmal Siesta und durften danach sogar im angegliederten Hotel heiss duschen. Wir genossen den lauen Abend und assen im Restaurant Znacht. Wir wollten die argentinische Küche bis zuletzt auskosten. Als wir auf den Zeltplatz zurückkamen, waren wir nicht mehr allein. Ein paar junge Jujeños machten hier ihren Wochenendausflug und wir gesellten uns noch eine Weile zu ihnen. Sie waren angenehm angesäuselt und redselig. Es wurde ein gemütlicher Abend an der „Stehbar“, mit Mitternachts-Asado und jeder Menge Rotwein-Cola-Mix. Eisgekühlt gar nicht mal so schlecht, wie’s tönt. Der CD-Player spielte Folkloremusik neueren Datums. Erstaunlich und schön, dass dies die Jungen hier noch hören. In Chile (welchem wir im Nachhinein das Prädikat „kulturlos“ verliehen) klimperten aus den Radios amerikanische Pophymnen. In Argentinien lebt die Folklore und der „Vögalischottisch“ mit einem saftigen Beat unterlegt und modern interpretiert würde vielleicht auch bei uns zuhause das junge Publikum begeistern. Stobete meets Rave.

Die Kids hatten etwas mehr Ausdauer als wir und als wir am nächsten Morgen unser Zelt abbrachen, waren sie noch immer auf den Beinen. Wir stemmten die Unsrigen in die Pedale und kämpften uns die Auffahrt hoch. Kloink – es tönte nach verwurstelter Kette, doch nach genauem Hinsehen war der Schaden etwas grösser als erhofft. Die Kette war noch ganz, der Freilauf dafür hin. Steigungen von über sechzehn Prozent waren wohl nicht bloss für die Gelenke schädlich. Zum Glück war ein Satz Freilaufzahnräder eines der wenigen Ersatzteile, die wir eingepackt hatten. Sonst wäre wohl vorderhand wieder fertig gewesen mit Velölen, ein solches Ersatzteil wäre bestimmt in ganz Argentinien nicht aufzutreiben gewesen. So machten wir's uns halt abermals im Patio des Campingrestaurants bequem. Brö reparierte und schmierte den Göppel, Patrizia schrieb Tagebuch. Es wurde ein ruhiger Tag. Dito das Abendprogramm, bis auf die Zeltnachbarn.

Wir schliefen wie die Engel, so schön kann Zelten sein, packten abermals und dieses Mal gingen wir die steile Auffahrt zu Fuss hoch. Es war beinahe windstill und die Wärmegrade kletterten im Gleichschritt mit den Höhenmetern, als wir die langgezogene Cuesta hochstiegen. Dann war das Tor zur berühmten Quebrada de Humahuaca erreicht. Quebrada lässt sich ungefähr mit „trockenes Tal“ übersetzen. Trocken war's und heiss. Unser Wasserkonsum näherte sich Werten wie zu besten Afrikazeiten. Nach tausend Höhenmetern erreichten wir das kleine Dorf Purmamarca, wo wir abends statt den Rütlischwur (es war der Erste August) Pachamama feierten. Wir assen zu ehren Mutter Erde zwar nicht auf dem Boden, wie es die Einheimischen an diesem Tage tun, sondern in einem Touristenrestaurant. Wiedereinmal Cordero (Schaf) und um das Mahl zu untermalen, griffen die Beizerin und ihr Bruder zur Gitarre und unterhielten die Gäste mit Weisen aus dem Land der Gauchos und, hier im Norden mehr und mehr, Indigenas.

Die Felsen der Quebrada de Humahuaca, einer seit tausenden von Jahren bevölkerten Gegend und Weltkulturerbe, strahlten in allen Farben. Man fragt sich allerdings schon, was die Menschen dazu bewog, sich in diesen staubtrockenen Gegenden niederzulassen, statt in den saftiggrünen Tälern. Wir machten einen kurzen Spaziergang entlang des „Camino de los Colores“, bevor wir uns mit dem Velo auf den Weg machten. Uns standen noch zwei letzte kurze aber sehr schöne Etappen bevor. Inmitten der ariden Landschaft schlängelte sich der Rio Grande und an dessen Ufer wand sich ein fruchtbarer Streifen Grün. Rechts und links ragten die Felswände in teilweise skurrilen Formen gegen den blauen Himmel. Der Wind blies talabwärts, während wir uns langsam in entgegengesetzter Richtung bis auf dreitausend Meter über Meer bewegten. Wir passierten kleine Dörfer und Weiler aus Adobe- (Lehm-)häusern und uns wurde bewusst, dass wir bald die Grenze zu einem neuen Land ansteuerten. Die Bewohner in diesem Teil Argentiniens waren hauptsächlich Indigenas oder, hierzulande politisch nicht ganz korrekt: Indios. Der Wechsel der Kultur spiegelte sich aber nicht nur in den Menschen wieder, sondern auch in der Landwirtschaft. Nicht moderne Traktoren, sondern Ochsenpflüge bewirtschafteten den staubigen Boden. Es wurde deutlich, dass hier die ärmste Provinz des Landes beheimatet war.

Nicht nur die Lebensbedingungen waren hart und karg hier, auch die Menschen liessen die Fröhlichkeit und Wärme ihrer Landsgenossen vermissen. Den Leuten am Strassenrand war kaum ein Lächeln, geschweige denn ein Winken abzuringen. Wir wurden bereits des öfteren vorgewarnt, dass die Andenbewohner kühler und verschlossener seien. Hoffen wir also, dass wir in Zukunft trotzdem auch den Kontakt zu diesen Völkern finden. Wir sind gespannt auf Bolivien.



17.11.11 Geraldton, Australien

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