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AntarktisMit der Segelyacht ans Ende der Welt

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14. Dezember 2004 - 15. Januar 2005
Reisetag Nr. 451 - 483

Buenos Aires – UshuaiaDie Crew trifft ein

Der einzige Fixpunkt unserer Reise war da und wir liessen unser Tandem mit einer Menge Material, das wohl in der Antarktis wenig gebräuchlich gewesen wäre in Buenos Aires zurück. Eine dicke Mütze, warme Socken und leere Speicherkarten für die Kamera schienen uns genügend für einen Trip zu den Pinguinen. Die Gummistiefel trafen, zusammen mit vier Freunden aus der Schweiz am Flughafen von Buenos Aires ein, wo wir sie gespannt erwarteten. Gespannt nicht nur, weil wir sie fünfzehn Monate nicht mehr gesehen hatten, sondern deshalb, weil sich als letztes Crewmitglied die unbekannte Tanja eingeschlichen hatte, um sich von nun an die Koje mit Bruno zu teilen. Das zweite Paar, das uns entgegenstrahlte waren Moni und Ivo. Endlich durften wir unsere Freunde wiedereinmal herzlich in die Arme schliessen. Der Flug nach Ushuaia verging wahrlich wie im Flug, denn Patrizia schnappte sich den Platz neben Moni und Brö gesellte sich zu Ivo. So wurden wir erst mal über die allerwichtigsten Neuigkeiten aus dem Schweizerländle informiert.

Ushuaia, seines Zeichens die südlichste Stadt der Welt, empfing uns nicht gerade mit südlichem Flair. Sandstrände und Kokospalmen hatten wir an diesem Breitengrad nicht gerade erwartet, aber dass die Temperaturen im Vergleich zu Buenos Aires um etwa dreissig Grad absackte und es in Strömen goss (ein seltsames Wetterphänomen, wie man uns versicherte, das jedoch drei Tage anhielt...), war nicht gerade ein warmer Empfang. Dieses Wetter allerdings passte aber bestens in unsere Vorstellung von Feuerland, wo sich feuerspeiende Drachen und allerhand andere Ungeheuer in den schroffen, mit dunklen Wolken verhangenen Bergen verstecken und die sturmgepeitschte See den Seefahrern das Fürchten lehrt. Ganz so war es nicht, dennoch passte die Stimmung sehr gut zu dem kleinen Ort, einer Mischung aus temporärer Ansiedlung für Glücksritter und Ex-Sträflinge und Touristenstädtchen am Ende der Welt.

Dass wir gerade hier eine Luxusunterkunft sondergleichen antrafen, freute uns natürlich ganz besonders. Mit Tanja und Bruno teilten wir uns eine liebevoll eingerichtete Cabaña mit Bodenheizung, Cheminée und Whirlpool. Noch ein paar logismässige Streicheleinheiten vor den zu erwartenden Entbehrungen auf der Segelyacht. Im Nu hatten wir es uns heimelig eingerichtet und verschlangen die ersten literarischen und kulinarischen Grüsse aus der Heimat. Schon praktisch, wenn der Besuch gerade vor Weihnachten eintrifft. Ivo und Bruno amtierten als seesackschleppende Weihnachtsmänner, die uns allerlei Geschenke von Lieben Zuhause überbrachten. Danke!

Als wir um neun Uhr zum Nachtessen aufbrachen, war es noch immer nicht dunkel. War schon recht seltsam, die Dämmerung zog sich über Ewigkeiten dahin und so richtig Nacht wurde es bloss für ein paar Stunden. Bis die käselastigen Pizzas allerdings auf dem Tisch standen, hatte sich der Tag definitiv verabschiedet. Aber wir hatten ja genügend zu schwatzen und zumindest wir beide hatten nicht eine allzu lange Reise hinter uns. Zum Nachtessen schlossen sich unsere zwei Skipperinnen an, die uns bereits vom Flughafen abholten: Jacqueline mit ihrem dreimonatigen Spross Marisol. Ganz recht, das Baby – Gegenstand heftiger Diskussionen im Vorfeld – trat mit uns die Reise gegen Süden an. Wie's ihm und uns bekam, werdet ihr auf den nächsten Zeilen erfahren.

Vier Uhr dreissig. Bereits wieder hell und an Schlaf bald nicht mehr zu denken. Wir frühstückten vor dem schönen wolkenverhangenen Panorama Ushuaias. Ofenfrische Brötchen, wohlduftender Kaffee und frischgepressten Orangensaft – Stilecht. Danach wurden heftig Natels und SIM-Karten ausgetauscht, damit die Handysüchtigen wieder online waren. Waren wir auch einmal so? Da schien Brunos neue Kamera, zumindest für Brö, doch noch ein bisschen interessanter, als so ein Telefon. Wer braucht denn schon ständig erreichbar zu sein. Naja, in der Antarktis sind die Natelantennen wohl eher dünn gesät, kalter Entzug (im wahrsten Sinne des Wortes) war angesagt für unsere kommunikationsverwöhnten Schweizer.

Das Wetter war etwas besser als gestern, wir zottelten ins Städtchen und erhaschten vom Quai einen ersten Blick auf die Sarah, die für die kommenden vier Wochen unser Zuhause sein würde. Wir waren gespannt, was uns auf der Yacht und auf dieser Reise erwarten würde. So aus Distanz betrachtet sah das Boot nicht gerade riesig aus. Zehneinhalb Personen vier Wochen lang auf engstem Raum – eine neue "Big Brother"-Staffel konnte beginnen. Zum Glück mussten wir nicht alle paar Tage jemanden über Bord schmeissen. Zurück in der Cabaña und nach der Siesta im flauschigen Bett oder in der Sprudelwanne stiessen wir alle zusammen auf diese Reise an. Mit Sekt und Weihnachtsguetzli. Am Abend gab's "Cordero Patagonico", kokett aufgespannte Lämmer, die um ein Feuer brutzelten.

Nach dem Frühstück packten wir unser Gepäck zusammen, um unser Domizil von der Cabaña auf das Boot zu verlegen. Während wir vier uns im eisigen Wind an einem Yachthafen die Beine in den Bauch standen, warteten Moni und Ivo beim gegenüberliegenden. Mittendrin lag die Sarah vor Anker. Nach geraumer Zeit löste sich das "Dingi" (Schlauchboot) von der Yacht und ein verschmitzt dreinblickender Seebär namens Henk begrüsste uns. Wie hievten unsere Seesäcke ins Schlauchboot und tuckerten zur Sarah, sahen uns auf dem Boot um und schnappten uns eine Koje. Obwohl wir noch im sicheren Hafen vor Anker lagen, registrierte unser Gleichgewichtsorgan die ersten Ungereimtheiten und wir schauten uns vielsagend an. Das Boot schien uns aus dieser Perspektive recht geräumig. Jeweils zu zweit teilten wir uns eine Kabine mit zwei Kojen. Auch der Salon sah recht gemütlich aus, obwohl auf dem ganzen Schiff noch einiges herumlag. Etwas später holten wir die Frischwaren an Bord und verstauten säckeweise Karotten, Kartoffeln und Äpfel im Bug, dem sogenannten "Garten". Das Fleisch (und das Bier) wurde im Rumpf versorgt – bei den zu erwartenden Wassertemperaturen erübrigt sich wohl ein Kühlschrank. Die beiden Lämmer wurden an Deck an den "Marterpfahl" festgebunden und verliehen dem Schiff etwas barbarisches. Es fehlte nur noch die Totenkopfflagge auf dem Mast.

Der Bauch des Bootes war bereits voll mit Lebensmitteln für die lange Reise, allzu viele Shoppingmöglichkeiten gibt's in der Antarktis wohl nicht. Das erste z'Vieri an Bord überzeugte uns davon, dass wir in den nächsten Wochen nicht Hunger leiden müssen und der Getränkevorrat reicht bestimmt auch für geeichte Seebären. Gegen Abend setzten wir wieder über und die Damen tätigten die letzten Einkäufe (respektive komplettierten die Falschlieferungen), während die Herren zum Flughafen fuhren, um ihrerseits die Crew zu komplettieren. Dominik fand all seine Sachen auf dem Rollband, Björn jedoch wartete vergebens auf seinen Rucksack, denn nachdem bereits Ivos Gepäck einen Tag verspätet und um einige praktische Utensilien erleichtert in Ushuaia eingetroffen war, hatte sich Björns prallgefüllter Rucksack nach Iguazu, am nördlichen Zipfel Argentiniens verflogen – das zumindest fanden wir nach einigem Hin und Her heraus.

Was jetzt? Warten und hoffen, dass Björns dicke Unterhosen den Weg nach Ushuaia finden oder auslaufen und unterwegs Wollsocken stricken? Beim gemeinsamen Nachtessen bei Jacqueline und Henk – obligatorisch mit einer Riesenportion "Cordero" – entschieden wir uns, noch einen Tag zu warten. Es wurde ein sehr schöner Abend. Wir feierten nicht nur das Wiedersehen mit all unseren Freunden, sondern auch Brunos Geburtstag. Die Crew war nun komplett und alle waren gespannt auf die Reise in die Antarktis – die Vorfreude war jedem von uns ins Gesicht geschrieben.

Spät fuhren wir im Dingi raus zur Sarah und bereiteten uns auf die erste Nacht in der Koje vor. Wir wurden sanft in den Schlaf gewiegt. Nach dem Frühstück an Bord stand uns noch ein letzter Landgang bevor. Björn tätigte ein paar Noteinkäufe, die E-Mails wurden abgestöpselt, die letzten Schritte auf festem Boden gemacht und, zum Glück, Björns verwaister Rucksack vom Flughafen abgeholt, sodass wir beim Eindunkeln bereit zum Auslaufen waren. Jacqueline und Henk hatten bis zum Schluss alle Hände voll zu tun, damit die Sarah voll beladen und herausgeputzt in See stechen konnte.

Ushuaia – AntarktisIn Teufels Küche

Um Mitternacht wurde der Anker gelichtet und weil Bruno so fixiert auf den Kompass war, statt nach vorne zu schauen, steuerte das Boot nur knapp an der Hafenmole vorbei in den Beaglekanal. Endlich! Ein lange gehegter Traum ging in Erfüllung, wir waren auf dem Weg in die Antarktis. Die Lichter von Ushuaia wurden schwächer und wir tuckerten in die schwarze Nacht. Peilung West-Südwest.

Bald einmal übernahm der Autopilot, sodass wir etwas direkter dem Ziel entgegensteuerten. Unter Motor fuhren wir die Nacht hindurch und legten in Puerto Williams an. In Ushuaia reisten wir offiziell aus Argentinen aus, um hier vom chilenischen Zöllner willkommengeheissen zu werden. Wir unternahmen den letzten Landgang für die nächsten paar Tage. Biber sahen wir leider keine, bloss ein paar Pinguine in Regenklamotten und Gummistiefeln die durch die Gegend watschelten. Bevor wir weiterfuhren, gönnten wir uns eine warme Dusche und füllten den Wassertank der Sarah auf. Gegen Abend wurden die Leinen losgemacht und wir fuhren ein paar Stunden, um in einer geschützten Bucht eine letzte ruhige Nacht zu verbringen. Am nächsten Morgen wurde das Boot für die Überfahrt klargemacht. Auf und unter Deck wurde alles weggräumt oder festgebunden. Dann hiess es Anker lichten und ab ins Ungewisse. Bevor wir jedoch richtig in Fahrt kamen, mussten wir nochmals Ankern, aus dem ganz blöden Grund, dass das Klo hoffnungslos verstopft war. Zum Glück war uns das in noch relativ ruhigen Gewässern passiert, denn Henk musste die halbe Toilette zerlegen und – naja – hoffentlich haben wir's mit unserem Skipper nicht bereits verspielt. Von jetzt an pumpten wir wie wild, um unsere Hinterlassenschaften den Fischen zu verfüttern.

Dann stand uns aber nichts mehr im Weg und zwischen uns und dem sechsten Kontinent lag bloss noch die sagenumwobene Drakepassage. Die Tage auf hoher See wurden sehr lang, Zeit also, um die Sarah vorzustellen. Unsere Yacht, mit vollem Namen "Sarah W. Vorwerk", ein sechzehn Meter langer Einmaster mit Stahlrumpf und verstärktem Bug. Dreissig Tonnen schwer, hundertvierundfünfzig Quadratmeter Segelfläche, Masthöhe: zweiundzwanzig Meter. Ausgestattet mit allen möglichen technischen Finessen wie Radar, GPS, Funk, Satellitentelefon, Wetterfax und so weiter. Ein höchst taugliches Boot also, um in die Antarktis zu schippern. Dass die Crew nicht ebenso seetauglich war, begann sich recht bald abzuzeichnen. Der Wellengang nahm stetig zu und im Gegensatz dazu die allgemeine Aktivität an Bord ab. Nach den ersten paar Meilen wurden die ersten Pflaster hinter die Ohren geklebt und mit Stugeronkuren begonnen. Die Wirksamkeit dieser Medikamente darf allerdings im Nachhinein in Frage gestellt werden, denn nicht einer überstand beide Passagen brechfrei.

Tanja, Moni und Dominik verabschiedeten sich recht bald von der Bildfläche und verbrachten die folgenden drei Tage liegend in ihren Kojen. Vor allem Bruno hatte alle Hände voll zu tun, um gesammelte Magensäfte zu entsorgen. Der Menuplan war während der Überfahrt recht reduziert und bestand hauptsächlich aus Crackern und Tee und für die ganz Hartgesottenen ab und zu einer Bouillon. Anfänglich war noch hin und wieder jemand auf Deck oder im Salon anzutreffen, doch mit zunehmendem Breitengrad mutierte die Sarah zum Geisterschiff. Nicht bloss wegen den bleichen Gesichtern. Man konnte trotz der bescheidenen Platzverhältnisse oft stundenlang keiner einzigen Seele begegnen.

Nach anderthalb Tagen erreichten wir die Konvergenzzone, jener Gürtel, der die Antarktis umspannt und die antarktischen Gewässer von den anderen Ozeanen trennt. Innert Stunden sank die Wassertemperatur um mehrere Grad Celsius. Als wir die Antarktis erreichten, war das Wasser gerade noch minus nullkommaacht Grad "warm". Es war neblig und bald trat die Eisbergwache in Aktion. Während Jacqueline und Henk sich die Bordwache teilten, wechselten sich die verbleibenden Fünf im Stundenrhythmus für die Wache auf Deck ab. Anfangs war's ja bloss bitterkalt aber mit zunehmendem Sturm und Wellengang wurde es unangenehmer. Hätten wir die Eisberge wirklich genügend früh erkannt in diesem Nebel und der Gischt? Manchmal fragten wir uns schon, was wir hier eigentlich machten.

Der Zeitpunkt kam und Ivo machte dieses "Scheissspiel" (wörtlich) nicht mehr mit und musste Forfait geben. Er war es auch, der die Intimsphäre an Bord für abgeschafft erklärte und sich keine Mühe mehr machte, die Toilettentür zu schliessen. Nun gut, auch Bruno kam mehr als einmal mit heruntergelassener Hose aus dem Klosett geflogen. Als später auch noch Patrizia zeitweise für die Wache ausfiel, da Finger und Füsse einfach nicht mehr warm werden wollten, wurde es langsam anstrengend für die letzten Mohikaner. Es war ja nicht so, dass ihnen der Wellengang überhaupt nichts ausgemacht hätte. Alle drei Stunden hiess es wieder in den nasskalten "Helly Hansen" schlüpfen, nach oben an Deck klettern und die letzten trocken gebliebenen Handschuhe tauschen (schweizer Militär sei dank).

Die kleine Sarah wurde von Wind und Wellen hin- und hergeschleudert und tanzte ihren wilden Tanz alleine auf dem riesigen Ozean. Sie ächzte und stöhnte im tobenden Meer und steckte Schläge ein, dass man um einen Stahlrumpf dankbar war. Man kam sich vor wie in einer Waschmaschine, nicht bloss, wenn man aus den Luken guckte, die nun mehrheitlich unterhalb der Wasserlinie lagen. Sich in dem schrägen und wild schaukelnden Schiff zu bewegen erforderte einiges an Akrobatik und obwohl alles sturmtauglich festgebunden und verstaut war, flogen gefüllte Schubladen, Stereoanlage, schlicht, so ziemlich alles durch die Luft. Das Wasser lief quer aus den Hähnen, der Toilettengang wurde zum Kampf gegen die Elemente und in der Koje wurde man entweder an die eiskalte Bordwand gedrückt oder hing im Auffangnetz. Es war kalt, auch an Bord, denn die Heizung funktionierte nicht.

Die Sarah flitzte mit bis zu elf Knoten (gut zwanzig Stundenkilometer) gegen Süden und stemmte sich mit durchschnittlichen fünfundvierzig Grad Krängung gegen die haushohen Wellen. Im schwachen Licht der Dauerdämmerung war die Szenerie unheimlich, ja geradezu apokalyptisch und immer sass einem die Angst im Nacken, dass man so einen blöden Eisberg übersehen könnte. Wenn die Wellen über das Boot schlugen und die Sarah zur Hälfte im Meer versank, wenn sie mit siebzig Grad Neigung (das ist imfall verdammt nahe an Waagerecht) in ein Wellental stürzte, spätestens dann kam man sich ziemlich einsam, hilflos und verlassen vor. Und wenn man dann noch selbst von einer Welle überspült und sich pudelnass irgendwo festklammerte und gegenstemmte um nicht ausgeladen zu werden, kamen gewisse Zweifel an diesem Unterfangen auf. Zum Glück waren wir an einer „Nabelschnur“ gestgemacht. Man begann die Minuten bis zur nächsten Ablösung zu zählen. Wir hatten ja gewusst, dass die Überfahrt drei, vier Tage dauern würde, aber dass die Nächte ja auch noch dazukommen, damit hatte wohl niemand gerechnet. Man verlor komplett das Zeitgefühl. Einerseits, weil man andauernd wieder geweckt wurde, um die nächste Schicht anzutreten, andererseits verflossen Tag und Nacht ineinander.

"Land in Sicht!", tönte es nach gut achzig Stunden auf hoher See und die Stimmung hob sich. Ein Ende war abzusehen. Doch, zu früh gefreut. Wegen dem Sturm (elf Beaufort, auf einer Skala von zwölf!) und vor allem deshalb, weil der Wind aus der falschen Richtung fegte, konnten wir Hanna Point nicht ansteuern und das Ziel rückte wieder in weite Ferne. Das hiess nochmals zwanzig Stunden durch die sturmgepeitschte See pflügen und noch ein paar zusätzliche Wachschichten schieben. Immerhin gesellte sich Patrizia jetzt wieder zu den drei Wachmannen dazu. (Zur Definition der Beaufortstufe elf: Windgeschwindigkeit hundert bis hundertzwanzig Stundenkilometer, aussergewöhnlich hohe Wellenberge, orkanartiger Sturm, heftige Böen, brüllende See, Wasser wird waagerecht weggeweht, starke Sichtverminderung – Tja, genauso war's!)

Als wir uns dem Ziel dann tatsächlich langsam näherten, begann sich die See zu beruhigen und auch unsere armen "Komapatienten" konnten bald aufatmen. Wir hatten Glück, dass es uns zweien verhältnismässig gut ging. Wir zogen die Eisbergwache einem Dreitage-Dauerbrechen jederzeit vor. Kaum lagen wir in der windgeschützten Bucht in spiegelglatter See vor Anker kam wieder Leben in die Bude. Ausgezehrt zwar, erschöpft vom Dauerliegen, -brechen oder -wachschieben, aber glücklich, endlich am Ziel angekommen zu sein. Die Gedanken an die Rückfahrt wurden tunlichst verdrängt. Fazit der Drakepassage? Ein gerissenes Segel, gerissene Seile, ein paar von Bord gespülte Teile, vor allem aber Grenzerfahrungen, die sich bestimmt keiner von uns so ausgemalt hätte uns niemals vergessen wird. Die Antarktis muss wohl verdient werden, ein tosender Gürtel aus Wind und Wellen umgibt diesen Kontinent der Stille und Einsamkeit. Es war ein Eintauchen in eine andere Welt. Ein kühles Bier und Spaghetti waren Tafelfreuden, die uns frohlocken liessen und bald waren alle Strapazen vergessen. Die erste Nacht in der Antarktis, vor Anker und in ruhigem Gewässer, schliefen alle wie Engel, beseelt von dem glücklichen Gefühl bald diese friedliche Eislandschaft zu erkunden.

AntarktisSchnatternde Pinguine, Treibeis und tanzende Ukrainer

Noch vor dem Frühstück sahen wir uns die Eislandschaft, die uns hier in Melchior umgab, von Bord aus an. Jetzt begann der gemütliche Teil der Reise – "Sightseeing" war angesagt. Später machten wir eine kleine Spritzfahrt mit dem Dingi und konnten die Weddellrobben auf dem Eis und die Kehlstreifenpinguine auf den Felsen aus der Nähe betrachten. Die Auslöser der Kameras wurden im Schnellfeuertempo betätigt und es zeichnete sich relativ bald ab, dass Bruno das Rennen um den "Wer-knippst-am-meisten"-Preis machen würde. Die anderen allerdings waren ihm dicht auf den Fersen.

Nachdem die kleine Marisol die Drakepassage grösstenteils friedlich im sturmtauglichen "Kaninchenstall" (Henk möge uns diese Bezeichnung verzeihen) verbrachte, war sie jetzt an Deck oder im Salon anzutreffen. Unsere anfänglichen Befürchtungen, das Boot mit einem kleinen Schreihals zu teilen, bestätigten sich zum Glück nicht. Im Gegenteil: Marisol (übersetzt "Meer und Sonne") war wirklich ein seetauglicher Sonnenschein auf der ganzen Linie. Dem kleinen Spatz schien die Schaukelei dermassen zu gefallen, dass sie kaum einmal schlechter Laune war und selbst Personen, die weniger mit Kleinkindern anzufangen wussten, genossen es, das Baby zu wiegen oder ihm ein Liedchen vorzusingen. Wer weiss, vielleicht war es nicht nur für Dominik ein guter Vaterschaftstest. Seine Babyliteratur auf jeden Fall machte die Runde...

Unter Motor, das freute vor allem Dominik, denn er hatte eine akute "Segelallergie", tuckerten wir nach Couverville, einer der vermutlich schönsten Orte, die wir besuchten. Hier stimmte einfach alles. Die untergehende Sonne und die aufkommende Dämmerung tauchten die Gegend in bezauberndes Licht. Es war schlicht und einfach unglaublich schön, mit der Segelyacht mitten in der Antarktis zu ankern, aus der Ferne den Pinguinen zuzuschauen, umgeben von Schnee und Eis ein kühles Bier an Deck geniessen. Einmal mehr waren wir unendlich dankbar, dass uns Momente wie diese vergönnt sind. Dankbar, dass es solche Orte gibt und dankbar, dass wir das Privileg haben, sie besuchen zu dürfen.

Der Duft von Essen erfüllte das Boot, am Mast baumelten bloss noch anderthalb Schafe und zu leckerem argentinischen Wein gab's "Cordero Patagonico". Brö hat's gemeinhin ja nicht so mit dem Abnagen von Knochen und säbelte sich murrend und mehr schlecht als recht durch die Lammteile. Die Küche hatte diesen Umstand aber registriert und das nächste "Cordero" wurde uns praktisch mundgerecht serviert. Wir plauderten noch eine ganze Weile, verarbeiteten unsere ersten Eindrücke. Am nächsten Morgen brachen wir auf zu einem ausgedehnten Landgang. Henk brachte uns im Dingi an Land und wir schwärmten aus, um die schnatternden Pinguine zu studieren. Da, eine Robbe guckte treuherzig in die Linse und dort, ein Adeliepinguin hatte sich mitten in die Eselspinguinschar verirrt. Man konnte sich den Tieren bis auf Armlänge nähern, ohne dass sie sich von unserer Anwesenheit hätten beeindrucken lassen. Aufpassen mussten man höchstens, dass man nicht in hohem Bogen "angeschissen" wurde, denn darin waren diese Tiere wahre Meister. War das schön, einfach bloss dazusitzen und den gefiederten Gesellen zuzuschauen, wie sie ins Wasser tauchten oder über die Felsen watschelten. Draussen hüpften die putzigen Vögel auf die Eisschollen und tauchten elegant wieder ins Meer. "Magnum"-Fotografen und "National Geographic"-Filmer haben hier wahrlich ein leichtes Spiel.

Am Nachmittag erklommen wir einen Hügel und rutschten auf dem Hosenboden wieder herunter. Die Aussicht auf dem Gipfel dieser Insel war atemberaubend und es war angenehm warm. Im Sonnenlicht spiegelten sich Schnee, Wasser und Eis. Die Zeit verging wie im Flug und bald sassen wir frisch geduscht an Deck der Sarah, genossen die letzten Sonnenstrahlen und einen leckeren Aperitif. Es war der vierundzwanzigste Dezember und schöner hätte man Heiligabend nicht verbringen können. Im Ofen brutzelte ein feines Filet, wir legten die frischgepresste Feel the Spirit-CD auf und liessen es uns im angenehm warmen und weihnächtlich dekorierten Salon wohl sein. Sogar ein kleiner schoggibehangener Weihnachtsbaum fand sich trotz Brunos anfänglichem Widerspruch in seinem Gepäck und zierte unsere Stube. Nach einem gemeinsamen "Stille Nacht" genossen wir Portwein und Brandy aus Südafrika und Weihnachtsguetzli aus helvetischen und argentinischen Backstuben.

Am Weihnachtstag verliessen wir Couverville und die Sarah bahnte sich langsam ihren Weg durch die losen Eisschollen. Wir freuten uns wie kleine Kinder – wenn wir da bereits geahnt hätten, was uns noch erwarten sollte... Alle standen wir an Deck und genossen die Aussicht auf Felsen, Schnee und die Eisberge, die langsam an uns vorüberzogen. Beim Überqueren einer etwas offeneren Passage wurde es wieder ein bisschen welliger und der Himmel zog sich langsam zusammen. Aus der Ferne sahen wir die Schwanz- und Rückenflossen von Buckelwalen. Als wir etwas näher fuhren, tauchten sie allerdings wieder ab. Sie schienen hier nicht so verspielt wie in Südafrika, aber bei diesen Wassertemperaturen ist einem wohl nicht nach Sport zumute.

Bei der chilenischen Gonzáles-Videla-Station gingen wir an Land und waren froh über den guten Tipp, nichts anderes als Gummistiefel als antarktistaugliches Schuhwerk mitzubringen. Wir standen knöcheltief im Pingukot! Rund um die Station nistete eine riesige Pinguinkolonie und der Kot-Schneematsch türmte sich hoch. Die netten Soldaten der chilenischen Armee putzen unsere Stiefel und luden uns in ihrem Wohnzimmer zu Wein und Keksen ein. Ihre Tätigkeit hier beschränkte sich vermutlich auf das Markieren von Besitzanspruch. Neben Argentinien und der britischen Krone bezeichn(et)en auch die Chilenen einen Teil der Antarktis als ihr Hoheitsgebiet. Zum Glück ist der Kontinent bis zum Auslaufen des Antarktisvertrages im Jahre zweitausendeinundvierzig vor jeglichem Hoheitsanspruch und jeder Ausbeutung geschützt. Bleibt zu hoffen, dass sich alle daran halten und der Vertrag dereinst erneuert wird. Forschung und Tourismus sind reglementiert, doch sich an diese Richtlinien zu halten ist grundsätzlich jedem selbst überlassen. Man bekommt allerdings schon das Gefühl, dass "Pinguinforschung" manchmal bloss ein Deckmantel für die Anwesenheit in der Antarktis ist und die Stationen als Trittbrett für die dereinstige Ausbeutung der zu erwartenden Bodenschätze dient.

Wir gingen noch kurz bei der unbesetzten Almirante-Brown-Station an Land. Wo die Chilenen sind, können die Argentinier nicht weit sein, diese ewigen Streithähne. Das zweite und letzte Mal setzten wir unseren Fuss auf den Kontinent, ansonsten besuchten wir vorgelagerte Inseln. Diese Station wurde ausschliesslich von Pinguinen bevölkert, die sich lautstark beklagten, als wir zwischen ihren Nestern an Land gingen. Dominik und Brö machten einen kleinen Abstecher auf einen Hügel und bewunderten von erhöhter Lage aus die Gegend. Die Anderen warteten unten bei einer Nothütte am Ufer, und konnten zusehen, wie sich grosse Teile eines Gletschers lösten und ins Meer donnerten. Gletscher überzogen auch hier auf der Halbinsel und auf den ihr vorgelagerten Inseln grosse Teile des Landes, schoben sich über Bergrücken und ins Meer. Es war eine imposante Gegend und das Eis schimmerte nicht nur im Wasser in allen Blautönen. In der Paradise Bay gingen wir vor Anker und waren von Eis umgeben. Ausnahmsweise ein pinguinfreier Ort – man konnte es riechen.

Heute gingen wir nicht an Land und fuhren gleich los, denn wir hatten einen langen Weg vor uns. Bis Port Lockroy waren es etliche Seemeilen, die einige von uns wegen der Kälte unter Deck oder sogar in den Kojen verbrachten. Dabei war vor allem der letzte Abschnitt der Strecke besonders schön, als wir durch einen schmalen Kanal fuhren. Natürlich konnte man die Umgebung auch in der wohligen Wärme des Salons durch die Luken geniessen. Der Ankerplatz in Port Lockroy war noch zugefroren, sodass wir an einer etwas offeneren Stelle ankern mussten. Jacqueline und Brö brachten die Taue aus, die das Boot zusammen mit dem Anker an Ort hielten. Die Dingi- und Ankercrew (die Mannen) waren langsam ein recht eingespieltes Team und die Arbeit ging Hand in Hand. Wir machten einen kurzen Ausflug auf die britische Station, das einzige Postamt in der Antarktis. Folglich schrieben wir am Abend Ansichtskarten im Akkord, um sie hier aufzugeben.

Am nächsten Morgen hatten die Stationsmitglieder etwas mehr Zeit und ein typischer Engländer führte und auf der Station herum. Neben Postamt diente die Station als Museum und es war interessant die alten Forschungseinrichtungen und Geräte zu sehen. Der alte Gramophon spielte eine Scheibe aus den Dreissigern und wir blätterten zu einem Tee in vergilbten Illustrierten. Seltsamerweise waren das mehrheitlich Frauenzeitschriften, was wohl nicht ganz exakt die Geschlechterquote von damaligen Forschungsstationen in der Antarktis repräsentierte. Die spärliche Einrichtung und die nicht vorhandene Wärmeisolation gaben einen guten Eindruck vom Leben auf diesen Stationen, als die Forscher noch Bärte trugen und Schneeschuhe aus Holz und Darmsaiten gezimmert wurden.

Das Wetter war bissig kalt und von den riesigen Walskeletten nur ein Bruchteil zu sehen. Der Rest lag noch immer unter einer dicken Schneedecke. Die Suche nach den Adeliepinguinen brachen wir vorzeitig ab, denn langsam wurde das Schneetreiben dichter. Wir setzten über zur Sarah und nach einer warmen Suppe wurden die Leinen gekappt und wir fuhren weiter. Wie so oft waren Dominik und Brö die Einzigen, die dem schlechten Wetter trotzten (ausser Henk natürlich) und die Sarah an den Eisbergen vorbeisteuerten. Wir hatten einige Tage schlechtes Wetter, was natürlich etwas schade war. Die Sicht war teilweise schlecht und das Farbspektrum beschränkte sich auf Grautöne. Selbstverständlich wäre es schöner gewesen, hätten wir draussen an Deck plaudern und die Aussicht geniessen können. Die Kälte hielt uns jedoch nicht immer davon ab, dick eingemummt draussen zu stehen, aber beim Skifahren auf der sonnigen Terrasse zu sitzen macht ja schliesslich auch mehr Spass, als im Nebel und Schneetreiben am Skilift zu hängen.

In der Nähe der Station Palmer "parkierten" wir die Sarah direkt neben einem tiefblau schimmernden Eisberg und machten vor dem Eindunkeln einen kurzen Landgang. Wir mussten aufpassen, um die spärliche Vegetationsschicht (meist Moose und Flechten) nicht zu zertrampeln. Die Antarktis besteht also nicht bloss aus Stein und Eis, auch einige Pflanzen gedeihen hier, sogar zwei Blütengewächse. Allerdings brauchen die Pflanzen wohl sehr angepasst zu sein, um diesen unwirtlichen Bedingungen zu trotzen. Wir schauten lange den Sturmvögeln zu, die im eisigen Wind über die Klippen segelten. Vor den Buchten auf der anderen Seite der Insel lag ein sanft wogender weisser Teppich aus zerbröseltem Eis. Eindrücklich waren auch die riesigen Seeelefanten, die am Strand lagen oder draussen im Wasser buhlten und mächtig brüllten. Trotz ihrer riesigen Masse machten sie, zumindest an Land und aus sicherer Distanz betrachtet, keine grosse Angst. Unser Unterbewusstsein registrierte wohl schnell, dass wir hier gegenüber einer halben Tonne Speck ohne Beine leicht im Vorteil waren.

Patrizia panierte einen Riesenberg Schnitzel und wie immer assen wir relativ spät zu Nacht. Die Sonne ging ja eh erst nach Mitternacht unter und gut zwei Stunden später wieder auf. In der Zeitspanne dazwischen herrschte helle Dämmerung. Wir gewöhnten uns sehr schnell daran, dass es nicht mehr dunkel wurde, allerdings verloren wir so etwas das Zeitgefühl. Aber das ist ja gerade das Schöne an den Ferien, oder nicht? Die Abende waren lang und die Diskussionen intensiv. Das Thema Versicherungen war ein Dauerbrenner und wurde mit der Zeit zum "Running Joke". Ivo und Björn hatten alle Hände voll zu tun, ihren Berufsstand zu verteidigen. Zum Glück ist Tandemfahren nicht ein ebenso sozialpolitisches Thema. Jemand hatte immer eine Story auf Lager und manch einem wurde es bisweilen etwas zu viel des Guten. Im Grossen und Ganzen war die Stimmung aber immer gut und gelassen. Im Nachhinein können wir sagen, dass wir uns ab und zu einen etwas strukturierteren Tagesablauf gewünscht hätten, denn wir lebten vielfach bloss ein wenig in den Tag hinein. Die Skipper drängten uns kein Programm auf, und wir bemühten uns wohl auch etwas zu wenig um Alternativen. Den meisten war es aber ganz recht, dass wir diese Reise eher gemütlich angingen und nicht in der Gegend herumhetzten.

Heute war aber Programm angesagt und zwar bereits früh morgens. Die Palmerstation erwartete uns und wir genossen das Privileg, die einzige Yacht zu sein, die sie in dieser Saison besuchen durften. Ansonsten schauten hier nur die grossen Kreuzfahrtschiffe (mit der amerikanischen Klientel) vorbei. Praktisch, wenn man einen Skipper mit Beziehungen hat. Wir wurden in Kaugummienglisch begrüsst – willkommen in den USA. Die Dame führte uns durch die Station und wir waren überwältigt von dem Luxus, der sich hier bot. Fitnessstudio, Vierundzwanzigstunden-Internet, Videobeamer, Relaxsessel und ein warmer Pool. Die Station für etwas dreissig Forscher war bestückt mit allem technischen Firlefanz, den man sich vorstellen konnte. Sie luden uns zum Mittagessen ein (Hamburger natürlich) und neben der Popcorn- stand sogar eine Eismaschine. Und das hier, wo sich die Gletscher fünfzig Meter entfernt ins Meer schieben. Dekadenter geht's nicht! Aber gastfreundlich waren sie, die Amis und wir kriegten sogar noch eine Führung durch die Laboratorien was uns natürlich weit mehr interessierte als Kraftmaschinen und DVD-Bibliothek. Marisol war zweifellos die Attraktion auf der Station. Es ist wohl nicht unbedingt die Regel, dass ein drei Monate altes Baby auf einem Segelschiff in die Antarktis fährt.

An von Robben besetzten Eisschollen und von Seeelefanten bevölkerten Stränden fuhren wir zu einer von Pinguinen bewohnten Insel. Um den Einfluss des Menschen auf das Brutverhalten der Vögel zu studieren, wurde ein Teil des Eilands für den Tourismus geöffnet, der andere blieb gesperrt. Die Resultate dieses Experiments wissen wir leider nicht, aber zumindest im touristischen Teil hatte es in jedem Nest ein bis zwei Eier oder Junge. Hier sahen wir zum ersten Mal Pinguinküken und waren entzückt von den flauschigen grauen Piepmätzen, die von Wind und Wetter geschützt unter Mamis Bauch lagen. Vielleicht war es auch der Papi, denn hier herrscht gerechte Arbeitsteilung im Haushalt und auseinander halten kann man die Geschlechter sowieso nicht. Während ein Partner auf Fischjagd geht, würgt der andere seinen Fang herauf und die Kleinen strecken ihre Köpfe tief in die Rachen der Eltern. Appetitlich sah das nicht gerade aus. Überhaupt waren die Pinguine nicht sonderlich reinliche Tiere (das hat man eben davon, wenn der Mann im Haushalt mithilft!). Hätten sie nicht ihr tägliches Bad, wären sie innert Kürze von Kopf bis Flosse mit Exkrementen übersäht und müssten ihren Frack in die chemische Reinigung bringen.

Die Schneeflocken legten sich behutsam auf die Federkleider der Vögel, es war Zeit zum Weiterfahren. Wir überquerten die Bismarkstrasse, durchquerten einige Gürtel aus Treibeis und fuhren gegen Abend in den Lemairekanal ein. Links und rechts ragten die Felsen hoch bis zu den Wolken und Gletscher schmiegten sich den Felswänden entlang ins Tal. Es schneite noch immer. Heisse Schokolade mit Rum hielt die Steuermänner warm. Die Suche nach einem geeigneten Ankerplatz dehnte sich heute bis in die frühen Morgenstunden aus, denn es herrschte Wind und wir mussten zweimal den Standort wechseln. So fuhren wir eben direkt bis zu Peterman Island, wo wir rückwärts in eine kleine Bucht einfuhren. Das Anlegemanöver verlangte vom neuen Dingiteam Bruno-Brö alles ab, denn kaum war die zweite Leine nach einer Kletterpartie über die Schneewechte am Ufer um einen dicken Fels geschlungen, löste sich die erste und rutschte unter einem hundert Tonnen schweren Felsblock hindurch. Seltsam. Gewisses Verbesserungspotenzial wäre noch vorhanden. Ein erneuter Versuch gelang und die Sarah lag festgezerrt und bereit für eine ruhige Nacht.

Auf Peterman zeigte sich das Wetter wieder von der guten Seite und wir verbrachten den Tag damit die verschiedenen Brutplätze zu besuchen, hunderte von Fotos zu schiessen, die warmen Sonnenstrahlen zu geniessen, den Kormoranen zuzuschauen oder auf einen Berg zu klettern. Es war märchenhaft und so friedlich hier. Man konnte stundenlang herumspazieren oder einfach nur dasitzen und den Pinguinen beim Füttern des Nachwuchses oder beim Optimieren ihrer Nester zuzuschauen. Es war amüsant, wie gewisse Tiere immer wieder versuchten, Steine aus den Nachbarsnestern zu klauen und mit Schnabel- und Flügelhieben traktiert wurden, wenn sie dabei erwischt wurden. Wenn ein Partner vom Fischfang zurückkehrte, begann ein lautstarkes Geschnatter und ein richtiger kleiner Begrüssungstanz und man sah dem Paar förmlich an, dass sie sich freuten, einander wiederzusehen. So ganz selbstverständlich war das ja nicht. Draussen im Meer lauerten die gefrässigen Seeleoparden und Orcas, die ziemlich scharf auf Geflügel waren. Als wir weit draussen eine Gruppe Killerwale vorbeischwimmen sahen, kamen die Pinguine scharenweise zurück an Land gehüpft und man konnte es ihnen nicht verdenken, dass ihnen nicht ganz wohl bei der Sache war, wieder ins Meer zurückzukehren. Immerhin waren sie aber im Wasser sehr viel flinker als an Land. Pfeilschnell glitten sie durch die See, während sie sich an Land doch eher tollpatschig fortbewegten. Aber hier hatten zumindest die ausgewachsenen Tiere ja nichts zu befürchten, die grossen Raubmöven hatten es auf die Jungen abgesehen.

Die Pinguine stolperten über Felsen und Steine und fielen immer wieder auf die Nase, respektive den Schnabel. Im Schnee kamen sie auch nicht viel besser voran, doch da konnten sie sich zumindest auf dem Bauch vorwärts schieben. Das sah recht ulkig aus, wie kleine Radtracks torpedierten sie sich über die Schneedecke und kamen erstaunlich schnell voran. Wir fragten uns doch, wieso sie ihre Brutplätze teilweise weit oben und entfernt vom Ufer aussuchten, wenn es doch so anstrengend war, sich im langen Frack, mit kurzen Beinen und Proformaflügeln fortzubewegen. Aber natürlich konnten sie nicht irgendwo ihre Nester hinbauen, wo noch Schnee lag und je früher sie mit Nisten begannen, desto grösser war der Erfolg, nach dem kurzen Sommer starken Nachwuchs zu haben.

Der Eisbergverkehr draussen wurde langsam dichter und wie in einem Film zogen von Pinguinen und Robben bevölkerte Schollen an uns vorbei. Während wir an Deck den Apéro genossen, briet Henk auf dem Holzkohlegrill unsere "Parilla". Normalerweise betreute Jacqueline die Küche, ab und zu mit einer helfenden Hand aus der Crew und Henk kümmerte sich um den Rest des Bootes. Aber Fleisch grillieren ist Männersache, das ist auch in der Antarktis so. Morgens gab es frisch gebackenes Brot, Käse, Spiegeleier, Speck und alles, auf was man gerade Lust hatte. Wir fühlten uns rundum gut uns sicher aufgehoben auf der Sarah.

Wir verbrachten nochmals einen halben Tag auf Peterman und ein Blick Richtung Süden zeigte, dass uns Treibeis erwartete. Trotzdem verliessen wir mittags den Ankerplatz und steuerten die Station Vernadsky an. Diese lag bloss ein paar Seemeilen entfernt, doch brauchten wir sieben Stunden, um dorthin zu gelangen, was eine Durchschnittsgeschwindigkeit von etwa einem Knoten ergab. Nach und nach wurde das Treibeis dichter und schloss sich enger um die Sarah. Es blieb aber immer genügend Spielraum, dass die kleine Sarah die Eisschollen beiseite schieben und zwischen ihnen hindurchschlüpfen konnte. Sie war etwas wendiger als der Dreimaster "Europa", der morgens an unserem Ankerplatz vorbeifuhr und nun beidrehen musste. Aus Distanz sah er genauso aus, wie Shackletons "Endurance", die monatelang im Packeis des Weddellmeers gefangen war und schliesslich von den Eismassen zermalmt wurde.

Wir hätten uns ja nie im Traum einfallen lassen, dass wir hier durchfahren würden. Die Aussicht vom Mast war überwältigend. Rundherum nichts als Eis, manchmal sah man kaum noch eine Handbreit Wasser. Zwischen den Eisschollen lagen kleine Eisberge und darauf Robben und Pinguine. Das liest sich jetzt sicher bald, als ob es in der Antarktis nichts anderes als Pinguine, Robben, Eis und Wasser gegeben hätte. Das stimmt eigentlich auch mehr oder weniger, aber Farben und Formen änderten sich von Augenblick zu Augenblick und man konnte sich kaum satt sehen. Wir standen den ganzen Nachmittag an Deck und genossen die Sonne, während sich die Sarah langsam nach vorne schob. Wie immer kündigten wir unseren Besuch bei der Station über Funk an und wurden mit "Eisbrecher Sarah" begrüsst. Wir waren die erste Yacht, die sie in dieser Saison besuchte.

Am folgenden Tag konnten wir sogar direkt über die Eisschollen an Land marschieren. Wir wollten zu einer Eishöhle auf der Insel, stapften durch den Schnee und suchten vergebens den Eingang. Nach geraumer Zeit gaben wir das Unterfangen auf und machten uns auf den Rückweg. Björn und Brö wählten die "Abkürzung" über eine zugefrorene Bucht und gingen vorsichtig über die Eisschicht. Die Kletterpartie über die losen Schollen und über die Schneewand am Ufer erforderte einen letzten gemeinsamen Kraftakt – die anderen waren natürlich viel eher am Ziel.

Eigentlich wollten wir ja zurück auf die Sarah, aber die Ukrainer passten uns ab und wollten uns partout nicht zurück zum Boot lassen, bevor wir ihre Station besucht hatten. In Socken wurden wir durch die Vernadsky-Forschunsstation geführt, welche die Ukrainer von den Briten vor ein paar Jahren komplett ausgerüstet geschenkt kriegten. Sie war tipptop im Schuss, ihre Einrichtungen aber kein Vergleich zu den Amerikanern, versteht sich. Die Laboratorien waren jahrgangsmässig ungefähr zwischen dem Museum Port Lockroy und den Hightecheinrichtungen der Palmer-Station anzusiedeln und die Ukrainer brauchten wohl etwas mehr Improvisationstalent, um ihre Anlage in Schuss zu halten als die verwöhnten Amerikaner. Das Prunkstück der ehemaligen Faraday-Station, die Ozonmessanlage mit denen die britischen Forscher dannzumal das Ozonloch entdeckten, war noch immer in Betrieb und wurde uns mit Stolz vorgeführt.

Während sich die Damen auf der Station eine heisse Dusche gönnten, schwitzen die Herren in der hundertzehn Grad Celsius warmen Sauna. Als etwas Wasser über die heissen Steine gegossen wurde, konnte man sich sehr gut vorstellen, wieso Broccoli im Dampfkochtopf innert Sekunden lind ist. Abkühlung verschaffte ein Bad im minus nullkommaacht Grad kalten Meer und es prickelte gewaltig. Nach drei Durchgängen waren auch die Mannen reif für eine Dusche und machten gerne vom Angebot der Ukrainer gebrauch. Wir assen auf der Sarah zu Nacht als der Funkspruch kam, wir sollen doch bereits etwas früher rüber kommen. Die ukrainischen Männer konnten es wohl kaum erwarten, bis die Silvesterparty stieg. Da garderobemässig etwas limitiert, konnten wir mit den geschniegelten Herren der Station nicht ganz mithalten, doch hatten wir eindeutig den Frauenbonus auf unserer Seite. Anton, der junge Offizier, der am besten Englisch konnte, führte durch den Abend und es zeichnete sich sehr bald ab, dass sich "ukrainische Traditionen" hauptsächlich auf das Herunterexen von Wodka beschränkten. Jedenfalls fand er laufend neue Gründe für einen Trinkspruch. Es wurde ein sauglatter Abend und mit Händen und Füssen verständigten wir uns mit unseren ukrainischen Gastgebern. Der selbstangesetzte Wodka tat das seine und um Mitternacht konnten wir in fröhlicher Runde auf's neue Jahr anstossen. Auf dem kleinen Balkon wurden Leuchtraketen gezündet und wir knipsten Fotos vom Sonnenunter und später vom Sonnenaufgang. Zwischendurch wurden wir immer wieder mal von einem Stationsmitglied entführt, das uns stolz seinen Aufgabenbereich präsentierte. Ivo weiss jetzt ganz genau Bescheid über die Volvo-Generatoren und jedem wurde vom Biologen mindestens einmal der grosse Fisch mit dem Riesenmaul vorgeführt. So fanden wir alle schnell Anschluss und auf die Frage, was sie denn an den Fischen eigentlich so forschen würden, meinte der Akademiker, "ausmessen und essen". Das schien eine äusserst wichtige Studie über Grösse und Geschmack antarktischer Meerestiere zu sein. Am Buffet mit ukrainischen Spezialitäten konnten wir uns selbst von der hervorragenden Qualität antarktischen Kaviars überzeugen und schlemmen bis zum Ablöschen. Nach Mitternacht wurde kräftig das Tanzbein geschwungen und unsere Frauen waren begehrte Tanzpartnerinnen. Brö lief langsam zur Hochform auf, tanzte "Kalinka", sang und trank mit seinen ukrainischen Brüdern. Wir trällerten ein "Burebüebli", die Ukrainer fühlten sich herausgefordert und gaben ein Trinklied zum Besten. Zum Abschluss hielt Patrizia eine kurze Rede, Brö drückte seinen neu gewonnen Freunden aus dem Osten einen Schmatz auf die Backe und im Morgengrauen torkelte ein jeder zurück zum Boot und erstaunlicherweise fiel dabei niemand ins Wasser. Es war ein Silvester wie wir ihn schon lange nicht mehr erlebt hatten und trotz der ausgelassenen Stimmung und des hohen Wodkakonsums waren die ukrainischen Forscher zu den Damen sehr korrekt. Und dass der Mann im blauen T-Shirt mal etwas anhänglich wurde, wusste Moni am nächsten Morgen sowieso nicht mehr. "Welches blaue T-Shirt?"...

Um viertel vor elf am selben Morgen ging ein Raunen durch die Kajüten und die Mannen schälten sich aus ihren Schlaftüten. Sie hatten mit den Gastgebern eine Viertelstunde später abgemacht, um eine weitere ukrainische Tradition zu zelebrieren: ein morgendliches Bad zwischen Eisschollen. Doch als sie pünktlich am Steg erschienen, standen sie alleine dort. Na gut, wenn die Ukrainer halt ein Haufen verweichlichter Warmduscher waren und wegen ein bisschen Wodka ihre – naja, die wären eh nicht mehr besonders gross gewesen im eiskalten Wasser – einzogen, sprangen sie halt alleine in die kalten Fluten. Nach ein paar Schwimmzügen hatten sie ihre Schuldigkeit getan, zogen sie sich an und frühstückten zusammen mit den Frauen.

Trotz gewissen Nachwehen von gestern (Wodka scheint zum Glück keine Kopfschmerzen hervorzurufen, vielleicht war er ja präventiv mit Aspirin versetzt) machten wir uns am Nachmittag auf den Weg um einen erneuten Vorstoss zur Eishöhle zu wagen. Nach einem kurzen Disput über die Streckenwahl fanden wir den Eingang, der allerdings von einem riesigen Pfropfen aus Schnee blockiert war. Während sich Bruno und Dominik in Klettermontur warfen und hochstiegen, sassen die anderen in mehr oder weniger horizontaler Lage auf einem Felsen und hatten einen guten Ausblick auf den "Sportkanal". Die Beiden pickelten und schaufelten wie wild und ab und zu wurden dem Publikum die aktuellen Chancen für einen Durchbruch durchgegeben. Bei sechzig zu vierzig, nach etwa zwei Stunden, machte sich Patrizia auf den Rückweg und leistete Moni, Ivo und Henk auf dem Boot Gesellschaft. Nach einem letzten Kraftakt hatten Dominik und Bruno den Stollen etwa fünfzehn Meter vorgetrieben und einen Eingang zur Höhle geschaffen. So konnten die Zuschauer bequem am Seil hochsteigen und mit Steigeisen an den Gummistiefeln die Eishöhle betreten. Richtige Bergschuhe hatten nur die beiden Eispickler mitgeschleppt. Im Innern schimmerte es in allen Blautönen, doch wegen der vorgerückten Stunde stiessen wir bloss etwa dreissig Meter weiter vor. Danach wäre es wieder eine Kletterpartie geworden. Von Innen entdeckten wir, dass es weiter oben einen einfacheren Einstieg gegeben hätte. Hm... Langsam kletterten wir wieder hinunter und trotteten zurück zum Schiff.

Nach einer kurzen Abstimmung entschieden wir, noch heute von Vernadsky loszufahren und stiessen ins Packeis vor. Die Strömung und der Wind zwangen uns allerdings zur Umkehr, sodass wir nochmals eine Nacht vor Anker zubrachten. Am nächsten Morgen sah die Lage zwar nicht besser aus, Henk steuerte aber einen anderen Kurs. Das Packeis war nun viel dichter als auf der Hinfahrt und wir kamen nur schleppend voran. Der Mastausguck zeigte den allgemeinen Kurs, diejenigen am Bug die kurzfristige Richtung und die Matrosen am Heck stocherten die abgebrochenen Schollen aus dem Weg und fungierten als "Rückfahrwarner". Immer wieder musste die Sarah Anlauf holen, "noch drei Meter, zwei, einen, stopp!", dann volle Pulle vorwärts und in bester Eisbrechermanier auf die riesigen Schollen vor uns fahren und hoffen, das sie brachen. Das taten sie immer seltener und das Eis um uns herum war so dicht zusammengeschoben, dass es irgendwann weder vor noch zurück gab. Henk gönnte der Maschine und der Mannschaft eine kurze Verschnaufpause und nach zwei weiteren erfolglosen Vorstössen, bei denen wir kaum einen Meter gut gemacht hatten, gaben wir auf. Wir sassen mitten in der Penolastrasse im Packeis fest. Henk funkte grössere Schiffe in der Nähe an, jedoch keines war in unserer Richtung unterwegs. Das amerikanische Versorgungsschiff Gould sicherte zwar seine Dienste zu, falls wir in Not gerieten, aber die Lage war nicht dramatisch und wir warteten einfach auf besseres Wetter. Es war aber beruhigend zu wissen, dass Hilfe innert ein paar Stunden an Ort und Stelle wäre. Wir übernachteten also mitten im Eis und die Sarah war so perfekt eingekeilt, dass es kein bisschen schaukelte. Die Wache beschränkte sich darauf, dass alle zwei Stunden jemand an Deck musste, um die Lage zu analysieren. Rundherum alles weiss, drei Beaufort aus Nord – weiterschlafen.

Am nächsten Morgen war die Lage unverändert und wir stellten uns auf einen ruhigen Tag ein. Wir hatten Zeit, um Fotos zu sortieren, Tagebuch zu schreiben und zu lesen. Wir unternahmen nochmals zwei, drei Anläufe um von hier wegzukommen, jedoch ohne Erfolg. Vor unseren Nasen tauchte ein Seeleopard aus dem Wasser, ruhte sich jeweils auf einer Eisscholle aus und tauchte wieder unter. Wir schauten dem Spektakel eine Weile zu, bis er ganz verschwand. Ab und zu watschelte ein Pingin vorbei – ganz alleine waren wir also nicht hier draussen. Zwischendurch schneite es ein wenig, der Himmel war bedeckt, ideales Kinowetter also. Aus Mangel an Filmpalästen baute Brö aus Ivos Laptop, der Stereoanlage, ein paar Kabeln, Schrauben und Klebstreifen eine akzeptable Vorführanlage und der Salon verwandelte sich in einen Kinosaal. Dominik machte Popcorn in verschiedenen Geschmacksrichtungen und so kamen wir in den Genuss der heissblütigen Frieda Kahlo mitten im arktischen Pakeis. Und weil's so schön war, gab's nach dem Nachtessen "Ocean's Eleven" als Nocturne. Unsere Crew wusste also aus jeder Situation das Beste zu machen und so kam uns der Tag gar nicht so lange vor.

Am Morgen des dritten Tages begann sich das Wetter zu bessern und es wurde wärmer. Die Chancen für einen erfolgreichen "Ausbruchsversuch" stiegen mit den Temperaturen. Unter den gewaltigen Schollen konnte man die Dünung ausmachen. Im Zeitlupentempo hoben und senkten sich die Eismassen. Gegen Mittag konnte sich die Sarah aus der eisigen Umklammerung lösen und wir kamen Meter um Meter voran. Immer wieder vor und zurück zwängte Henk das Boot zwischen dicken Eisschollen hindurch. Dominik sass den ganzen Nachmittag auf dem schwankenden Mast – wird er wohl doch noch zum standfesten Seemann? Die anderen verteilten sich auf Späh-, Stocher- und Abstandwarnposten und mit vereinten Kräften machten wir immer schneller Weg gut. Rundum begannen die Eisschollen zu schmelzen und nach und nach entliess uns das Packeis in die Freiheit. Am frühen Abend hatten wir das Ende des Eisgürtels erreicht und ein Freudenschrei ging durch die Runde. Geschafft! Fast drei Tage brauchten wir für eine Strecke von gerade mal vier Seemeilen.

Wir konnten uns aber noch nicht auf die faule Haut legen, denn wir mussten noch durch den Lemairekanal, der sich gemäss anderen Schiffen langsam schloss. Auch das Wetter drehte wieder und wir schafften es gerade noch, bevor der Wind den Kanal mit Eis zu versperren drohte. Bis wir den Ankerplatz bei Port Lockroy erreichten, war es bereits recht spät. Dort sahen wir zu, wie Passagiere eines grossen Kreuzfahrtschiffes mit Gummibooten an Land gebracht wurden. Auch die gibt es hier in der Antarktis, doch ziehen wir unsere kleine Sarah, den grossen anonymen Kähnen vor. Das ist wohl etwa dasselbe, wie wenn man statt mit dem Tandem mit einem Bus unterwegs ist und keinen Einfluss darauf hat, wo man anhalten und was man sehen will. Es ist was anderes, wenn man den Elementen so direkt ausgesetzt ist oder die Umgebung durch eine Glasfront wahrnimmt. Von den grossen Schiffen dürfen jeweils nur maximal fünfzig Leute auf einmal an Land, was an sich an gewissen Orten bereits eine recht hohe Zahl ist. Übersteigt die Passagierzahl ein gewisses Limit, dürfen überhaupt keine Landgänge mehr durchgeführt werden. Antarktis vom Wohnzimmer aus sozusagen. Wir würden uns immer wieder für eine Segelyacht entscheiden um in die Antarktis reisen, obwohl einer Drakepassage in einem Fünfzigtausendtonnen-Kahn auch gewisse Vorteile abzuringen sind...

Am nächsten Morgen fuhren wir durch den Neumayrkanal und die Gerlachestrasse Richtung Nordwesten und bei Enterprise Island wurde die Sarah an einer anderen Segelyacht festgemacht, die an einem rostigen Wahlfangwrack vertäut lag. Etwas neidisch schauten wir das Boot an, denn dort konnte man die Eiswache bequem von einer wohl gemütlich beheizbaren Kabine aus machen. Die Rückkehr über die Drakepassage rückte unumstösslich näher. Das Dingiteam füllte den Wassertank mit frischem Schmelzwasser und alle kamen nochmals in den Genuss einer warmen Dusche. Am Nachmittag fuhren wir nordwärts und endlich wurden wiedermal die Segel gehisst. Es ist schon ein anderes Gefühl vom richtigen, statt nur vom Dieselwind angetrieben zu werden. Auch in der Magengegend, denn die ersten Brecher traten wieder in Aktion. Und natürlich wurde auch die beliebte Eisbergwache wieder aktiviert. Wir fuhren die ganze Nacht hindurch und um zehn Uhr Morgens erreichten wir Decepcion Island, unsere letzte Station in der Antarktis. Es war gigantisch durch diesen schmalen Schlitz in den riesigen Krater der Vulkaninsel einzufahren. Im geschützten Innern war die See wieder ruhig. Wir warfen den Anker, assen was Kleines zum Frühstück und gingen mit dem Dingi an Land. Als wir ankamen, war die Vorhut bereits am graben eines Pools am Strand. Hier läuft heisses Wasser aus dem vulkanischen Innern durch den Sand ins Meer und es dampfte mächtig. Wir mussten uns ein bisschen beeilen, denn die Flut war auf dem Vormarsch. Ein paar von uns begnügten sich mit einem Fussbad doch andere gönnten sich ein Vollbad unter freiem Himmel. Der Pool wurde noch ein bisschen optimiert und mit einem Kaltwasserzufluss vom Meer versehen. So konnten wir die Temperatur tipptop regulieren und wir genossen die Badefreuden in vollen Zügen. Wir waren so aufgeheizt, dass wir trozt dem kalten Wind nicht froren. Nachdem wir uns wieder angezogen hatten, kletterten wir auf den Kraterrand. Das war gar nicht so einfach, der Hang war recht glitschig. Oben zogen einige Nebelfetzen vorüber und in der Ferne sahen wir die riesige Kehlstreifenpinguin-Kolonie. Wie emsigen Ameisen überzogen zehntausende von Piepmätzen die Flanke und ein grauer Strom aus watschelnden Pinguinen ergoss sich sich zum Strand. Bloss Dominik und Bruno nahmen aber den Weg auf sich, um sie von Nahem zu beäugen. Der Rest stapfte den Abhang hinunter und wir sahen uns die verlassene Walfangstation an. Unglaublich, wenn man sich vorstellt, dass hier vor nicht allzu vielen Jahren tausende von Walen zu Tran verarbeitet wurden und deren Kadaver die nun so friedliche Bucht in einen blutigen Friedhof verwandelten.

Antarktis – UshuaiaDrakepassage im "Schongang" 

Wir bereiteten die Yacht auf die Drakepassage vor. Alles wurde verschnürt und gesichert, wir kannten das Spiel ja. Die Segel wurden gehisst und die Sarah stach in See. Wir verliessen den geschützten Kratersee und fuhren auf's offene Meer. Die erste Wachschicht übernahmen Moni und Tanja, sie wollten sie antreten, so lange sie dazu noch in der Lage waren. Wir richteten uns für die Rückfahrt ein und konnten von den Erfahrungen der Hinfahrt profitieren. Details, die uns die Tage auf hoher See erleichterten. Das Wetter zeigte sich aber von der freundlichen Seite und die Sonne versank langsam im Meer. Es war verhältnismässig mild und der Wellengang kein Vergleich zur Hinfahrt. Es war so angenehm, dass jeder viel länger auf der Wache blieb, als die vereinbarte Stunde und dass alle so wohlauf waren, stellte uns ungemein auf. Eine Drakepassage kann also auch anders ablaufen. Das heisst natürlich nicht, dass die Mägen nicht ab und zu trotzdem rebellierten. Nachdem Patrizia auf der stürmischen Hinfahrt "trocken" blieb, verzierte sie auf der Rückfahrt gleich zweimal das Deck während dem Wacheschieben. Der Wind frischte auf und die Sarah begann wieder, auf den Wellen zu reiten. Es schaukelte wieder etwas mehr, doch im Allgemeinen war der Salon einiges besser besucht als auf der Hinfahrt. Nach der zweiten Nacht und einer letzten Schicht zum Sonnenaufgang wurde die Eisbergwache beendet. Der folgende Tag war recht sonnig und man konnte an Deck liegen oder lesen. Patrizia langweilte sich zuweilen vor lauter rumliegen in ihrer Koje und wünschte nichts sehnlicher als einen Walkman mit einem Hörspiel. In der Koje war's zum Lesen zu dunkel und im Salon für gewisse zu schauklig. Die Stunden vergingen nur schleppend. In der Koje sangen wir ein paar Lieder zusammen, um ein bisschen Abwechslung zu haben. Gegen Ende der Überfahrt füllte sich der Salon wieder zusehends. Die Rollenverteilung war aber wieder ähnlich, wie auf der Hinfahrt und diejenigen die es dort bereits erwischt hatte, kamen erneut völlig ausgezehrt an. Es wäre bestimmt auch sehr interessant zu lesen, was einem durch den Kopf geht, wenn man drei Tage an die Koje gefesselt ist, nichts essen, nichts trinken und nicht schlafen kann. Aber wir wollen ja niemandem die Lust auf einen Segelturn mit den detaillierten Schilderungen akuter Seekrankheit nehmen. Kurz vor Mitternacht sahen wir von weitem Kap Hoorn – wir hatten es geschafft. Henk steuerte einen ruhigen Ankerplatz an und Jacqueline kochte das Nachtessen. Als der Motor abgestellt wurde und die Sarah vor Anker lag, kamen auch die Seekranken aus den Kojen um sich zu stärken.

Am nächsten Morgen wurde das Dingi wieder klar gemacht und trotz Wind und Wellen steuerten wir Kap Hoorn an. Bei diesen garstigen Verhältnissen stürzten wir uns alle ins Ölzeugs und fuhren auf das berüchtigte Eiland zu. In einer windgeschützten Bucht ging die Sarah vor Anker und Henk brachte uns zur überaus glitschigen Anlegestelle. Das chilenische Paar, das Kap Hoorn dieses Jahr behütete empfing uns nicht besonders warmherzig. Man sollte meinen, dass sie sich am Ende der Welt etwas mehr über Besuch freuen würden. Wir drückten den obligatorischen Stempel in den Pass und schauten uns auf der Insel um. Die Vegetation erinnerte an ein Hochmoor und sogar Enziane blühten hier. Es duftete herrlich nach Grün und erst da fiel uns auf, dass die Luft in der Antarktis eigentlich ganz schön steril war (ausser im Umkreis von Pinguinkolonien...). Das Wetter änderte sich alle Viertelstunde und nach kurzen Regenschauern schien wieder die Sonne. Diese Unberechenbarkeit ist es wohl, die das Segeln in dieser Gegend so schwierig machte und noch immer macht. Und heute war vermutlich ein Prachtstag.

Wir setzten die Segel und steuerten nördlichen Kurs an. Die Albatrosse segelten knapp über den Wellen, es war herrlich zuzuschauen und eine Aufgabe für's "Sportprogramm" der Kamera. Den Apéro genossen wir wieder einmal an Deck und so näherte sich unsere Reise langsam dem Ende. Mitten in der Nacht nahmen wir einen anderen Segler ins Schlepptau, der etwas (selbstverschuldetes) Pech auf seinem ersten Antarktis-Turn gehabt hatte. Sein Getriebe war defekt und der Baum gebrochen. Das Boot irrte für zwei Wochen auf der Drakepassage rum, ohne etwas von der Antarktis gesehen zu haben. Dass die Mannschaft noch nicht gemeutert hatte, schien uns ein Rätsel. Jetzt hingen sie hinten an der Sarah, die sich mit Dieselkraft nach Puerto Williams schleppte. Nach den Zollformalitäten nahmen wir unseren Mitfahrer wieder an die Leine und fuhren durch den Beaglekanal Richtung Heimathafen. Es herrschte Gegenwind und mit dem Kahn im Schlepptau kamen wir teilweise kaum mehr vom Fleck. Böen mit über hundert Stundenkilometern liessen ein letztes Mal Drake-Gefühle aufkommen und hätten uns beinahe um unser Schoggimousse gebracht. Zwei Minuten nachdem wir die Sarah in einer letzten Aktion an der Boje befestigt hatten, verstarb der Diesel. Der Sprit war alle – das nennt man Timing! Mit einem Champagner feierten wir das glückliche Ende unserer Reise zum weissen Kontinenten.

Wir hatten unsere Sachen gepackt, in einer letzten stürmischen Überfahrt im Dingi setzten wir zum Festland über und waren nach tausendfünfhundertachtundsechzig Seemeilen und fünfundzwanzig Tagen auf See wieder zurück im Heimathafen. So schön die Reise war, bestimmt waren alle froh, wieder festen Boden unter den Füssen und etwas mehr Raum für sich zu haben. Im Tierra del Fuego-Nationalpark gewöhnten wir unsere Beine wieder an eine wackelfreie Auflage, die Wäscherei beglückten wir mit der Schmutzwäsche eines Monats, Material wurde aussortiert, kurz, Nachbereitung war angesagt. In den zwei Tagen, die uns allen zusammen in Ushuaia verblieben, liessen wir immer wieder Erlebnisse und Episoden aus der Antarktis Revue passieren. Wir genossen unsere schönen Cabañas, feierten Patrizias Geburtstag bei Champagner und Torte, verbrachten noch einige gemeinsame Stunden vor dem prasselnden Kaminfeuer und spannen Seemannsgarn. Wir vermissten die langen Tage der Antarktis.

Auf dem Weg zum Flughafen brannte Brö die letzten Pinguinfotos auf DVD und dann hiess es leider Abschied nehmen von Dominik und Björn, die nach Hause zu ihren Frauen flogen und Tanja und Bruno, die statt arktischer Kälte heisse Sambarhythmen ansteuerten. Mit Moni und Ivo fuhren wir später noch nach Chile und trennten uns dort von den letzten Freunden unserer Antarktiscrew. Uns blieben nur noch Erinnerungen an eine wunderschöne Reise zum sechsten Kontinenten. Eine Reise, in der wir in vielerlei Hinsicht Neuland betraten. Wir sahen ein Paradies aus Eis und Schnee, verbrachten vier Wochen auf einem Segelschiff, teilten uns die paar Quadratmeter mit achteinhalb Personen (die wir auch nach dem Trip noch zu unseren Freunden zählen können...), reisten über eine der gefürchtetsten Passagen der Ozeane. Es war definitiv eine Reise der Extreme. Extrem lange Tage, extrem hohe Wellen, extrem viele Fotos, extrem faszinierende, andersartige Landschaften, extrem viele Pinguine, extrem gute Kameradschaft. Eine Reise zum kältesten, trockensten (das soll uns erst mal einer beweisen...), bestimmt aber stillsten und friedlichsten Kontinenten der Erde. Ein Vollblutsegler ist wohl aus keinem von uns geworden, aber zumindest wir beide würden unser Tandem sofort wieder für ein paar Wochen mit einem Segelboot tauschen, um in die Antarktis zu segeln.



17.11.11 Geraldton, Australien

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